Sechster Verhandlungstag im Prozess um den Polizeimord an Mouhamed Dramé in Dortmund: Zivilbeamte im Zeugenstand

Auswendig aufgesagt

Seit Mitte Dezember vergangenen Jahres müssen sich fünf Polizisten, die an dem tödlichen Einsatz gegen den 16-jährigen Mouhamed Lamine Dramé in Dortmund am 8. August 2022 beteiligt waren, vor Gericht verantworten. Am 28. Februar, dem sechsten Verhandlungstag, haben sich erstmals Polizisten zu ihrem Vorgehen geäußert: Zwei der Einsatzkräfte waren als Zeugen geladen. Sie waren an jenem 8. August 2022 vor Ort, in zivil. Sie waren vom Dienstgruppenleiter Thorsten H. in den Innenhof der Jugendhilfeeinrichtung St. Elisabeth vorgeschickt worden, um die Lage zu erfassen und festzustellen, wo genau sich Mouhamed Dramé befand. Ein Betreuer der Jugendhilfeeinrichtung hatte die Polizei verständigt, weil sich der Jugendliche ein Küchenmesser an den Bauch hielt. Er befand sich in einem psychischen Ausnahmezustand. Die Polizeibeamte S. und P., beide Anfang 30, arbeiten in der Polizeiwache Nord in Dortmund. Angeklagt sind sie nicht.

Zivilpolizist S. spricht schnell und strukturiert. Wie sein Kollege P. später scheint er daran gewohnt zu sein, vor Gericht als Zeuge auszusagen. Manche Fragen des Vorsitzenden Richters Thomas Kelm beantwortet S. schon, bevor Kelm sie ihm stellt. S. spricht schnell und im Präteritum, was seine Aussage klingen lässt, als hätte er sie auswendig gelernt. Er nennt viele Details. S. klinge, als habe er sich gut vorbereitet, fragt Kelm. „Ich habe mich seit eineinhalb Jahre auf diese Aussage vorbereitet“, antwortet der Polizist. Zugriff auf Ermittlungsakten habe er nicht gehabt, wohl aber das Protokoll seiner polizeilichen Vernehmung.

In Zivil zum Einsatzort

S. schildert, wie er an jenem 8. August 2022 zum Tatort geschickt wurde. Als Polizist sei er nicht zu erkennen gewesen. Einer der Sozialarbeiter der Jugendhilfeeinrichtung habe ihm mitgeteilt, dass Mouhamed Dramé kein Deutsch spreche, wohl aber Französisch und Spanisch. Ein Kollege habe ihm gesagt, der Jugendliche reagiere nicht. S. habe versucht, auf Spanisch in Kontakt mit Mouhamed Dramé zu treten. Wie er heiße, habe er ihn etwa gefragt, und ob er Spanisch verstehe. Dramé habe keine Regung gezeigt. „Gefühlt war es so, als würde er durch mich hindurchschauen“, sagt S. Aufgefordert, das Messer wegzulegen, habe er Dramé nicht. S. habe mitbekommen, dass Einsatzleiter H. angeordnet habe, Pfefferspray einzusetzen. Kollegin B. habe zu diesem Zeitpunkt kein Sichtkontakt zu Dramé gehabt. Sie sei dann vorgetreten und habe das Pfefferspray eingesetzt, das sich über den Kopf des Jugendlichen ergoss. Der sei dann „schnellen Schrittes“ auf die Polizisten zugegangen.

In eine andere Richtung konnte sich Mouhamed Dramé nicht bewegen, stellt sich in der späteren Befragung von S. heraus. Dramé lehnte in dem an drei Seiten geschlossenen Innenhof an einer Wand. „Wie in einer Sackgasse?“, will Kelm wissen. „Quasi“, antwortet S. knapp. Einen alternativen Ausweg kann er nicht benennen.

S. erzählt, dass er dann mehrere „Knallgeräusche“ wahrgenommen habe. Fast zeitgleich, das geht aus der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft hervor, lösten zwei der Angeklagten ihre Taser aus. 0,717 Sekunden später soll der wegen Totschlags angeklagte Fabian S. sechs Schüsse auf Mouhamed Dramé abgegeben haben. Fünf davon trafen.

Für den Zivilpolizisten S. sei die größte Gefahr in dem Moment von dem Messer ausgegangen, erzählt er im Zeugenstand.

Ob er eine Einsatzbesprechung mitbekommen habe, fragt Richter Kelm den Zeugen. „Negativ.“ Ob der Einsatz des Pfeffersprays gegenüber Mouhamed Dramé angedroht worden sei? „Das habe ich nicht wahrgenommen.“ Diese Antwort geht dem Zivilpolizisten S. noch häufiger über die Lippen. Die Fragen des Richters beantwortet er zügig, auch die der Strafverteidiger. Bei den Fragen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklagevertreter braucht er des öfteren etwas Zeit, um nachzudenken. Ab und an antwortet S.: „Das weiß ich nicht.“

Staatsanwältin Gülkiz Yazir fragt S., ob er nach der Tat mit Kollegen gesprochen habe. Man tausche sich natürlich aus, sagt S. Jeder habe gesagt, dass ihm „unwohl“ sei. Konkretisieren will S. das nicht. Seine fünf angeklagten Kollegen verziehen keine Miene. Es klingt nach Selbstmitleid statt Reue.

Ausweichende Antworten

Der Polizeiwissenschaftler Thomas Feltes vertritt zusammen mit Rechtsanwältin Lisa Grüter die Nebenklage, die Familie des Getöteten. Feltes befragt S. zu dessen Erfahrungen mit Einsätzen wegen suizidaler Menschen. Solche Einsätze habe er häufiger erlebt, sagt der Zeuge, „aber nicht mit diesem Ergebnis“. Das Vorgehen sei „immer unterschiedlich“, weicht er aus. Wie man denn vorgehe bei einer Person, die ruhig an einer Wand lehnt? „Unterschiedlich.“ Dramé habe bedrohlich gewirkt mit dem Messer in der Hand. Wieso S. dann bei seinem Ansprechversuch so nah an den Jugendlichen heran gegangen sei und sich sogar in die Hocke begeben habe, will Feltes wissen. „Übergeordnet“ sei gewesen, dass Dramé eine Bedrohung für sich selbst gewesen sei, sagt S. Feltes’ Frage nach einer Dienstanweisung für den Einsatz von Pfefferspray beantwortet S. nicht. Er kenne die Anweisung, die sei aber „nicht relevant“.

Deutlich weniger schmallippig antwortet S. auf die Fragen von Christoph Krekeler. Der Rechtsanwalt verteidigt den Hauptangeklagten Fabian S. Wie groß die Entfernung zwischen dem Schützen und Dramé gewesen sei, hinter der Dramé nach dem Pfefferspray-Einsatz hervorkam? Sieben bis acht Meter, schätzt S. Was er dazu in der Ausbildung gelernt habe, fragt Krekeler weiter. Wenn der Mindestabstand zu jemandem unterschritten sei, der mit einem Messer bewaffnet sei, ließe sich die Situation wahrscheinlich nicht mehr „klären“, dann solle man „schießen“. Ob es noch andere Optionen gebe? „Wenn wir angegriffen werden, schießen“, sagt S.

Überforderter Richter

Bislang hat der Vorsitzende Richter Thomas Kelm sich geweigert, Pressevertretern und Besuchern mittels der im Gerichtsaal vorhandenen Technik Fotos zu zeigen, die er Zeugen vorlegt. Zu Beginn des sechsten Verhandlungstags äußerte er sich in dieser Sache. Er sei persönlich angesprochen worden, dass es Pressevertretern schwer falle, dem Inhalt der Verhandlung zu folgen, ohne Bilder dazu sehen zu können. Ausnahmsweise zeige er deshalb heute Bilder des Tatorts, obwohl er „nicht glücklich“ darüber sei. Während der Befragung des Zeugen S. kämpft Kelm mit der Technik. Die Fotos werden von einer Kamera gefilmt, die vor ihm auf dem Tisch steht. Auf dem Fernseher, der hinter der Richterbank hängt, stehen die Fotos auf dem Kopf. Oft sind sie zudem nicht ganz im Bild. Als ein Verteidiger Kelm darauf hinweist, er müsse die Fotos vor sich um 90 Grad drehen, dreht Kelm eines um 180 Grad. Gelächter im Saal. Schließlich rückt eine Richterin neben ihm die Bilder wortlos gerade, ohne richtig hinzuschauen.

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„Kein Signal“? Der Umgang des Vorsitzenden Richters Thomas Kelms mit Presse und Öffentlichkeit ist ein deutliches Signal: Transparenz unerwünscht. (Foto: Valentin Zill)

Bei der Befragung des zweiten Zeugen, dem Zivilpolizisten P., richtet Kelm die Fotos dann selber korrekt aus. Tatsächlich helfen die Bilder Journalisten und Besuchern, den Befragungen folgen zu können. Für die Zeugen macht es die Situation angenehmer. Sie müssen immer noch zur Richterbank gehen, um dort Standpunkte auf den Fotos zu zeigen. Anders als die Sozialarbeiter der Jugendhilfeeinrichtung, die am dritten und fünften Prozesstag als Zeugen ausgesagt hatten, werden sie nicht von einer Traube aus Rechtsanwälten umlagert.

„Denkbar, dass er Schmerzen hatte“

Zeuge P. wirkt ähnlich gut vorbereitet wie sein Kollege S. Seine Schilderungen decken sich weitgehend mit denen von S. P. gibt an, Einsatzleiter H. bei der Fesselung von Mouhamed Dramé geholfen zu haben, nachdem der Jugendliche von Schüssen zersiebt zu Boden gegangen war. H. habe auf der rechten Schulter Dramés gekniet. Weil der sich „immer noch wand“, habe er Dramé die Hände auf den Rücken gedreht. Zu dem Zeitpunkt hätten seine Kollegen das Messer noch nicht gefunden. „Es musste wohl unter ihm liegen.“ Man habe den Jugendlichen hoch gehoben und zwei bis drei Meter weiter getragen. Dabei habe Dramé „weiterhin um sich gestrampelt“. Selbst im Rettungswagen habe der Niedergeschossene noch „fixiert“ werden müssen. Oberstaatsanwalt Carsten Dombert fragt, ob Dramé eine „Widerstandshandlung“ geleistet habe. „Im Prinzip ja“, sagt P., „aber undefinierbar“. Dramé habe versucht, aufzustehen. Dombert bohrt nach: Ob es sein könne, dass der Jugendliche sich vor Schmerzen gewunden haben könne, nachdem er gerade von fünf Kugeln getroffen worden war? „Es ist denkbar, dass er Schmerzen hatte“, sagt P. Für ihn sei das Hauptproblem gewesen, wo sich das Messer befand.

Zwei Hauptfragen

Nach sechs Prozesstagen haben sich zwei für den Ausgang des Gerichtsverfahrens wesentliche Fragen herausgebildet. Die eine: Wieso hat Fabian S. sechs Mal auf Mouhamed Dramé geschossen? Stand seine Maschinenpistole verbotenerweise auf Dauerfeuer? Vier bis sechs Schüsse habe er gehört, sagt P. Dauerfeuer sei das nicht gewesen. Thomas Feltes fragt genauer nach: Wie denn Dauerfeuer einer MP5 klinge? Das habe er mal auf einem Schussstand gehört, sagt P., da sei die Schussfolge schneller. Drückt man dafür den Abzug tiefer? „Genau.“ Was passiere, wenn man den Abzug losließe? Dann höre die MP auf, zu schießen, sagt P.

Feltes befragt den Zeugen noch zur Angemessenheit des Einsatzes. Ob P. den Einsatz als gelungen bewerte? Das sei schwierig zu beurteilen, sagt P. „Von einem gelungenen Einsatz zu sprechen ist schwierig, wenn eine Person gestorben ist.“ Der Einsatz sei aber insoweit gelungen, weil niemand durch das Messer zu Schaden gekommen sei. Ob die Situation anders hätte gelöst werden können, will Feltes wissen. Zuerst den Taser einzusetzen sei schwierig, wenn „die Person“ sich ein Messer an den Bauch halte, weil sie dann ins Messer fallen könnte, sagt P. Zudem habe die Zeit gedrängt, weil Dramé sich mit dem Messer hätte verletzen können. Ob die Situation statisch bleiben würde, sei nicht einschätzbar gewesen.

Und das berührt die zweite wesentliche Frage. Bislang ist unumstritten, dass die Situation in dem an drei Seiten geschlossenen Innenhof statisch war, bis die Polizei Pfefferspray einsetzte. Sollte das Landgericht Dortmund feststellen, dass die Wahl dieses Mittels unverhältnismäßig war und damit rechtswidrig, kann der Hauptangeklagte Fabian S. nicht in Notwehr gehandelt haben. Andernfalls hätten die Angeklagten wenig zu befürchten. Die Aussagen der Zeugen S. und P. deuten darauf hin, dass Einsatzleiter Thorsten H. behaupten wird, der Pfefferspray-Einsatz sei notwendig gewesen, um Mouhamed Dramé vor sich selbst zu schützen. P. will gehört haben, dass S. den Dienstgruppenleiter vor dem Einsatz des Pfeffersprays gefragt habe, warum man keinen Taser verwende. H. soll geantwortet haben: Weil der Jugendliche dann ins Messer fallen könnte. Das Pfefferspray sei das mildere Mittel gewesen, sagt P. Auf Alternativen wie der Anforderung spezialisierter Einsatzkräfte, Psychologen oder eines Dolmetschers habe man aus seiner Sicht aus Zeitgründen nicht zurückgreifen können.

Rechtsanwältin Lisa Grüter sieht das anders. Im Gespräch mit UZ benennt sie eine naheliegende Alternative: „Gar kein polizeiliches Zwangsmittel einzusetzen.“ Mouhamed sei keine Gefahr für andere gewesen. Seine Mauernische hätte er nur in Richtung der Polizisten verlassen können. Bis zum Einsatz des Pfeffersprays hatte er das nicht versucht.

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Von links nach rechts: Rechtsanwältin Lisa Grüter, Sidy Dramé, Dolmetscher, Lassana Dramé (Foto: Valentin Zill)

Für Mouhameds Brüder Lassana und vor allem Sidy Dramé, seinem älteren Bruder, waren die Zeugenaussagen der beiden Zivilpolizisten schwer erträglich. Sidy tupfte sich immer wieder Tränen aus den Augen.

Abgesprochene Aussagen?

An diesem sechsten Prozesstag sind auch Fragen hinsichtlich einer möglichen Absprache von Aussagen zwischen Angeklagten und ihren Kollegen im Zeugenstand aufgekommen. Fragen der Staatsanwaltschaft deuten auf eine WhatsApp-Gruppe hin, in der sich die Angeklagten mit mindestens einem der beiden Zivilpolizisten im Zeugenstand ausgetauscht haben könnten.

Noch nicht geklärt ist, was genau der Dortmunder Polizeipräsident Gregor Lange seinen Untergebenen der Polizeiwache Nord wenige Tage nach der Tat gesagt hatte. Lange habe „seine Unterstützung“ ausgesprochen, sagte Zivilpolizist S. Er behauptet, Lange habe nicht konkretisiert, wie diese „Unterstützung“ aussehe. Ob die Strafanzeige der Polizei gegen Mouhamed Dramé wegen „Widerstands gegen die Staatsgewaltschaft“ gestellt wurde, bevor oder nachdem die Polizisten erfuhren, dass Dramé tot war, ist auch noch unklar.

Der Prozess geht am Mittwoch, den 6. März weiter. Für den siebten Prozesstag sind drei weitere Polizisten als Zeugen geladen, die an dem Einsatz beteiligt waren, aber nicht auf der Anklagebank sitzen.

Unsere bisherige Berichterstattung über den Prozess haben wir hier zusammengestellt.

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