Nicht wenige Linke und sogar nicht wenige, die sich Marxisten nennen, vertreten die Ansicht, die 2007 begonnene Finanz- und globale Wirtschaftskrise fordere uns zu ihrer Erklärung ganz besondere theoretische Anstrengungen ab. Tatsächlich scheint aber diese große Krise, mit der wir es immer noch zu tun haben, eigentlich die leichteste Übung zu sein. Erklärt werden muss weniger, wie und warum es zu einer solch massiven Störung des kapitalistischen Wirkungszusammenhangs kommen konnte, sondern viel eher, weshalb diese große Krise so lange auf sich hat warten lassen.
Denn auch diese Krise ist eine stinknormale, für den Kapitalismus übliche Überproduktionskrise. Sie ist Resultat des Grundwiderspruchs zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung, der für den Kapitalismus typisch ist. Dieser Widerspruch drückt sich im Regelfall in kapitalistischen Konjunkturkrisen aus. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass das ungebändigte Wachstum von Kapital und Waren nicht auf genügend kaufkräftige Nachfrage trifft. Die private Aneignung des Mehrprodukts durch die Kapitalisten, lässt den gesellschaftlichen Produzenten nicht genügend Wert-Geld, um die munter produzierten Waren zu kaufen. Kapitalistische Krisen sind also Absatz- oder Realisierungskrisen.
Viel spricht dafür, dass es sich bei der aktuellen Finanz- und Weltwirtschaftskrise nicht nur um eine der einigermaßen regelmäßigen Konjunkturkrisen oder Rezessionen handelt. Denn zum einen erfasst diese Krise den ganzen Globus. Zum anderen hat die Krise in den imperialistischen Hauptländern Europas, Nordamerikas und Japan den stärksten Einbruch von Produktion und Bruttosozialprodukt seit dem II. Weltkrieg hervorgerufen. Es handelt sich also um eine außergewöhnlich tiefe Krise. Sie beeinträchtigt zudem in ganz besonderer Weise das führende imperialistische Land, die USA, und gefährdet seine Vorherrschaft. Schließlich dauert diese Krise mit bisher zehn Jahren außergewöhnlich lang.
Die Krise ist damit historisch vergleichbar mit der großen Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts, die 1929 ebenfalls mit einem Finanz-Crash begann, und mit der schwerwiegenden Krise der 70er Jahre, die ebenfalls durch eine tiefe Rezession gekennzeichnet war, alle kapitalistischen Länder erfasste und die Phase fester Wechselkurse sowie Prosperitätsperiode der Nachkriegszeit beendete. Die aktuelle Krise dürfte in diesem Sinne eine Umbruchkrise der Weltwirtschaft bedeuten. Sie beendet diejenige Phase eines wirtschaftspolitischen Regimes, das wir uns angewöhnt haben als „neoliberal“ zu bezeichnen. Anders ausgedrückt macht diese Krise deutlich, dass das neoliberale Modell nicht mehr funktioniert. Wenn man den Neoliberalismus seinem eigenen Programm gemäß als Regime begreift, das die Profitrate im jeweils eigenen imperialistischen Lager auf direktem Wege über die Steigerung der Mehrwert- oder Ausbeutungsrate, also durch ganz gemeinen Lohndruck zu erhöhen versucht, müsste der oben skizzierte Widerspruch zwischen hohen Profiten und hohen Investitionen einerseits und zurückbleibenden Lohneinkommen andererseits die typische Überproduktionskrise noch schneller als ohnehin zum Ausbruch bringen.
Das aber ist lange nicht geschehen. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass das neoliberale Regime einen enorm aufgeblähten Finanzsektor entwickelte, der die Profitmassen absorbierte, von der gemeinen Mehrwertproduktion scheinbar unabhängige Profitquellen erschloss und zugleich durch die Verschuldung nicht nur der Kapitalisten und des Staates, sondern sogar auch vorübergehend die Kaufkraft der Lohnabhängigen erhöhte und so die eigentlich fällige Überproduktionskrise verzögerte. Die überproportionale Ausweitung des Finanzsektors ist ein wesentliches Kennzeichen des Neoliberalismus. Es ist deshalb nicht falsch, wenn man diese Periode, die mit der Krise der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts einsetzt und deren Ende von der aktuellen Krise eingeläutet wird, als von einem „finanzmarktgetriebenen“ Kapitalismus zu sprechen. Der Finanzsektor spielt in diesem System in vielfacher Hinsicht eine wichtige Rolle. Sein ungeheures Wachstum ist einerseits Resultat der beschleunigten Umverteilung des erarbeiteten Reichtums von unten nach oben. Zugleich dient der Finanzsektor als wichtiger Hebel, um diese Umverteilung von Arm nach Reich zu beschleunigen.
Mit der Aufblähung des Finanzsektors hat es das neoliberale Regime geschafft, über viele Jahre hinweg die eigentlich fällige Überproduktionskrise zu überspielen. Das ist auch der Grund, warum die Finanzkrise zum Auslöser der Weltwirtschaftskrise wurde. In dem Moment, als die Finanzblase platzte, trat die Überproduktion zutage, sackte die Nachfrage nach Konsum- und Investitionsgütern ab, reduzierte damit die Produktion von Waren und ließ die Arbeitslosigkeit steil nach oben klettern. Diese reale Wirtschaftskrise setzte in den USA bereits Ende 2007 ein, in Europa erst im Sommer 2008.
Nach der Pleite der Investmentbank Lehman Brothers Ende September 2008 drohten die Finanz- und Zahlungssysteme weltweit zu kollabieren. Die Regierungen der zentralkapitalistischen Länder setzten in dieser Situation buchstäblich Hunderte von Milliarden an Dollar oder auch Euro ein, um die Banken vor dem Zusammenbruch zu bewahren. Zur Stützung der Nachfrage schleusten sie außerdem fast ähnlich hohe Beträge in die Realwirtschaft. Beide Maßnahmen waren erfolgreich. Die Mehrzahl der Banken blieb zahlungsfähig. Die Konjunktur rutschte nicht tiefer in die Rezession sondern erholte sich ab 2009. Der übergroße Finanzsektor blieb erhalten. Es gelang aber trotz aller Bemühungen vor allem der Notenbanken nicht, die Spekulation wieder in Gang zu bekommen, und das Wachstum wieder nennenswert zu steigern. Das Resultat der Krise ist deshalb angesichts der unverändert verfolgten neoliberalen Wirtschaftspolitik bis heute kümmerliches Wachstum oder Stagnation.