Ende Dezember 2021 beschloss das Oberste Gericht der Russischen Föderation die Auflösung des internationalen Dachverbandes der Menschenrechtsorganisation „Memorial“, der in Moskau seinen Sitz hatte. Bei der Verhandlung vor dem Obersten Gericht waren, wie die russische Nachrichtenagentur „RIA Nowosti“ berichtete, allein aus 15 EU-Staaten Botschafter anwesend. Zwei Tage später wurde bekannt, dass auch das Menschenrechtszentrum von „Memorial“ in Moskau geschlossen werden soll. Das Urteil zur Auflösung von „Memorial“ wurde am 28. Februar bestätigt.
Im November vorigen Jahres hatte die Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation beim Obersten Gerichtshof den Antrag gestellt, „Memorial“ sowie das Menschenrechtszentrum, ein Archiv, eine Bibliothek und ein Museum aufzulösen beziehungsweise zu schließen. Als Grund nannte die Generalstaatsanwaltschaft das systematische Fehlen der Kennzeichnung „ausländischer Agent“ auf den Materialien von „Memorial“. Seit 2012 gibt es in der Russischen Föderation ein Gesetz, aufgrund dessen politisch tätige Organisationen (seit 2020 auch Einzelpersonen), die aus dem Ausland finanzielle Mittel erhalten, registriert werden müssen.
Das Gerichtsurteil gegen die internationale Dachorganisation der seit Ende der 1980-er Jahre existierenden Gesellschaft für historische Aufklärung, Menschenrechte und soziale Fürsorge „Memorial“ wurde – vor allem in den USA und in Westeuropa – heftig kritisiert. US-Außenminister Antony Blinken erklärte, die USA stünden solidarisch an der Seite all jener, die unterdrückt würden, weil sie vom Recht auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit Gebrauch machten. Unter jenen, die sich hierzulande solidarisieren, ist unter anderem die „Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“, doch auch das Deutsche PEN-Zentrum protestierte.
Ende November 2021 erklärte Sergej Obuchow, Sekretär des ZK der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF), das Urteil sei offenbar „mit heißer Nadel genäht“. „Memorial“ sei zwar ideologischer Gegner der KPRF, seine Partei sehe das Verfahren aber angesichts des zunehmenden Drucks der Regierung auf die gesamte Opposition sehr kritisch. Auch der Verantwortliche des Pressedienstes der Fraktion der Kommunistischen Partei in der Staatsduma und Mitglied des ZK der KPRF, Alexander Juschtschenko, erklärte, dass man – trotz der antisowjetischen Haltung von „Memorial“ – dagegen sei, die Organisation aufzulösen.
Demontage der sowjetischen Geschichte
Erste Bestrebungen zur Gründung von „Memorial“ gab es im Herbst 1987. Ursprüngliches Ziel war ein „Denkmal für die Opfer der Verletzungen der sozialistischen Gesetzlichkeit“ vor allem in der Stalinzeit und die Schaffung einer entsprechenden Bewegung „von unten“.
Aus dem Projekt für ein Denkmal, das durch einen Gedenkkomplex ergänzt werden sollte, entstand – nach einer unionsweiten Konferenz informeller Gruppen – eine Initiativgruppe „Für die Bewahrung der Erinnerung an die Opfer von Gesetzlosigkeit und Repressalien in der Vergangenheit unseres Landes“ („Memorial“). Im Januar 1989 konstituierte sich „Memorial“ in der Russischen Sowjetrepublik während einer Tagung des Moskauer Luftfahrtinstituts zunächst als wissenschaftlicher Verein. 1991 wurde „Memorial“ in der Russischen Föderation als Menschenrechtsorganisation registriert, die internationale Dachorganisation „Memorial“ im Jahr 2002.
Heute will „Memorial“ nicht nur Erinnerung bewahren, sondern auch Opfer und ihre Angehörigen sozial und juristisch betreuen, ihre Versorgung sichern, „beim Aufbau einer Zivilgesellschaft“ mitwirken sowie aktuelle Menschenrechtsarbeit leisten. Zudem berät man Flüchtlinge und entsendet Beobachter in Konfliktgebiete.
Möglich wurde die Gründung von „Memorial“ durch die von Michail Gorbatschow propagierte und durchgesetzte Politik der „Perestroika“ und vor allem durch „Glasnost“. Letzteres bedeutete zum Beispiel, dass im Lande nun endlich scheinbar über alles – vor allem im Hinblick auf die eigene Geschichte – geschrieben und diskutiert werden konnte, nicht nur in Zeitungen und Zeitschriften. Es konnte Gästen – wie zum Beispiel im Oktober 1988 in Moskau Wissenschaftlerinnen aus Westberlin und der DDR geschehen – von einem Funktionär aus der Zentrale der sowjetischen Gewerkschaften voller Überzeugung erklärt werden, Josef Stalin habe Adolf Hitler an die Macht gebracht.
In der Entstehungszeit von „Memorial“ versuchte der Physiker und Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow, der lange Jahre in der Sowjetunion als „Dissident“ galt, auch Alexander Solschenizyn für „Memorial“ zu gewinnen. Der lehnte ab – unter anderem deswegen, weil sich „Memorial“ nur auf die Stalinzeit konzentriere, die Repressionen aber schon mit der Oktoberrevolution 1917 begonnen hätten. In seinen Memoiren „Mein Leben“ betonte Sacharow, dass bereits damals auf „Memorial“-Versammlungen diskutiert wurde, „Memorial“-Interessen sollten nicht nur die Stalinzeit betreffen. In der beschlossenen Satzung war von den Opfern der Stalinschen Repressionen sowie von anderen Opfern terroristischer und illegaler Methoden des Staates die Rede. Zwar gehörten, folgt man den Erinnerungen Sacharows, damals sehr unterschiedliche Kräfte zu „Memorial“, durchgesetzt hat sich aber letztlich diese Geschichtsdeutung: Die Repression begann am 25. Oktober (7. November) 1917, also mit der Oktoberrevolution. Und ob es alle für „Memorial“ Tätigen wollen oder nicht: „Memorial“ folgt auch deshalb der Linie der „Resolution zur Notwendigkeit der internationalen Verurteilung von Verbrechen totalitärer kommunistischer Regime“ der parlamentarischen Versammlung des Europarats von 2006.
Antikommunistische Ausrichtung
Während der Verhandlung Ende 2021 erinnerte der Vertreter der Staatsanwaltschaft laut „Interfax“ daran, dass „Memorial“ ursprünglich geschaffen worden sei, um der Opfer von Verfolgungen und Repressionen zu gedenken. Man verfälsche aber das historische Gedächtnis – einschließlich des Gedenkens an den Großen Vaterländischen Krieg – und nutze dafür „Geld des Westens“. Unter dem Deckmantel der Wiederherstellung des historischen Gedächtnisses, so der Staatsanwalt, werde auch versucht, „Naziverbrecher und Vaterlandsverräter zu rehabilitieren“.
Stimmt Letzteres für den internationalen Dachverband der Menschenrechtsorganisation „Memorial“? Offenbar geht es nur um einige wenige Fälle. So fand der lettisch-israelische Historiker Aaron Schejer, Mitarbeiter der Gedenkstätte „Yad Vashem“, in einer – allerdings sehr großen – Datenbank von „Memorial“ drei Namen von Letten, die sich 1941 an Pogromen gegen die jüdische Bevölkerung in seiner Heimatstadt beteiligt hatten. Ein Versehen, so „Memorial“.
Nicht um die angebliche „Rehabilitierung von Nazis“ geht es im Fall der 1997 durch eine Gruppe von „Memorial“ eröffneten Gedenkstätte für die Opfer des „blutigen stalinistischen Regimes“ im Bezirk Sandarmoch in Karelien. In der „Prawda“ wurde im vergangenen Jahr über Zusammenhänge berichtet: Theoretisch war schon vor der Einweihung der Gedenkstätte nicht auszuschließen, dass an diesem Ort sowohl Gräber von durch sowjetische Behörden zum Tode Verurteilten als auch Gräber sowjetischer Kriegsgefangener gefunden worden waren. Ausgrabungen sowie Forschungen auch finnischer Historiker legten nahe, dass hier sehr viele sowjetische Kriegsgefangene begraben liegen. Diese litten in örtlichen Zwangsarbeitslagern der finnischen Besatzer (1941 bis 1944), die offenbar nicht weniger grausam als ihre deutschen Verbündeten vorgingen. In der „Prawda“ wurde kritisiert, dass dies die „Memorial“-Aktivisten nicht zur Kenntnis nahmen. Das heißt aber nicht, dass Ähnliches für andere von Gliederungen von „Memorial“ in Russland initiierte Gedenkstätten zutrifft.
„Agenten“?
Die Klage von „Memorial“ gegen die Auflösung, die am 28. Februar 2022 vor dem Berufungskollegium des Obersten Gerichts verhandelt wurde, scheiterte. „Memorial“ hatte zudem den Antrag eingereicht, entsprechend einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 29. Dezember 2021 im Verfahren gegen „Memorial“ die Anwendung der „Regel 39“ zu fordern. Dieser Regel zufolge ist die Vollstreckung des Urteils so lange auszusetzen, bis der Europäische Gerichtshof über die Klage gegen das russische „Agentengesetz“ entschieden hat. Das Urteil des Obersten Gerichts basiert, wie bereits erwähnt, vor allem auf diesem Gesetz. Der internationale Dachverband „Memorial“ und das Menschenrechtszentrum von „Memorial“ in Moskau gelten seit 2016 eben vor allem aufgrund ihrer Finanzierung als „ausländische Agenten“. 2015 war eine Klage des russischen Justizministeriums, „Memorial“ zu verbieten, noch vom Verfassungsgericht des Landes abgelehnt worden. Dieses „Hindernis“ gibt es jetzt aber offensichtlich nicht.
Nun erhält „Memorial“ offiziell Gelder des UNHCR sowie des Europarats für die Beratung von Flüchtlingen. Darum geht es offenbar aber nicht. Im Internet findet man Hinweise darauf, dass „Memorial“ finanziell von der „Soros-Stiftung“ (USA) unterstützt wurde. Auch die „Heinrich-Böll-Stiftung“ wird in einigen Quellen genannt. Klar ist, dass die „Heinrich-Böll-Stiftung“ seit Anfang der 1990-er Jahre mit „Memorial“ zusammenarbeitet. Auf der Webseite der „Heinrich-Böll-Stiftung“ ist davon die Rede, es habe sich im Laufe der Jahre eine „politische Freundschaft“ entwickelt, die Grundlage für viele gemeinsame Projekte sei. Ob das mit einer dauerhaften finanziellen Unterstützung verbunden ist, ist jedoch offenbar nicht belegbar.
Anders die „Soros-Stiftungen“ – diese haben seit den 1980-er Jahren bis etwa 2015 laut eigenen Angaben 1,6 Milliarden US-Dollar für die „Demokratieförderung“ in Osteuropa ausgegeben, darunter auch für Projekte in Russland. Seit 2015 agieren die „Soros-Stiftungen“, in Russland unerwünscht, „im Hintergrund als Geldgeber für russische Nichtregierungsorganisationen (NGO). Diese finanzieren sich größtenteils über ausländische Zuwendungen.“ Im Jahr 2013 berichtete „lenta.ru“, eine Moskauer Onlinezeitung, über „Memorial“ und sprach mit dem Leiter des Menschenrechtszentrums „Memorial“ in Moskau: „Der erste ausländische Sponsor von Memorial war die George-Soros-Foundation.“
Auch andere Stiftungen aus den USA und weiteren Ländern leisten in Russland „Arbeit für die Demokratie“. So die „National Endowment for Democracy“ (NED) aus den USA, die vom US-Kongress 1983 gegründet wurde, Geld aus dem US-Haushalt erhält und wie die „Soros-Stiftungen“ immer dabei ist, wenn es um die Organisation oder Unterstützung „farbiger Revolutionen“ und einen Regime Change geht. 2004 erhielten zwei führende „Memorial“-Mitglieder den „Demokratiepreis“ der NED.
Obgleich die NED in Russland seit 2015 unerwünscht ist, findet man bis heute trotzdem Wege, signifikante Summen für Proteste in Russland – und Belarus – auszugeben. Die Äußerungen – nicht nur – des US-Außenministers zum Urteil gegen „Memorial“ sind gewiss auch deshalb scheinheilig. Doch andererseits ist die Beweislage gegen „Memorial“ dünn oder, wie ja auch Obuchow erklärte, mit „heißer Nadel genäht“.
„Memorial“ in der Ukraine
Der ukrainische Ableger der „Memorial“-Organisation ist mit den anderen Zweigen nicht vergleichbar. Denn auf seiner Internetseite heißt es unter anderem: „‚Memorial’ initiierte 1992 (in der Ukraine – N. H.) die Gründung der Antikommunistischen Antiimperialen Front, hielt Anhörungen mit anderen Organisationen zum Thema ‚Kommunismus – eine Sackgasse der Zivilisation‘ ab; schuf das Ukrainische Nationalkomitee für die Organisation des Internationalen Gerichtshofs gegen die KPdSU-KPU (‚Nürnberg-2‘).“ Man feiert die „Ukrainische Nationalrevolution 1917–1921“, in der bürgerlich-nationalistische Kräfte dominierten, und organisiert unter anderem Lager für ukrainische Jugendliche unter der Bezeichnung „Pfade der Helden“ im Gedenken an die OUN-UPA und solche „besonderen Helden“ wie Stepan Bandera. Die OUN, die Organisation Ukrainischer Nationalisten, kämpfte während der Okkupation eine Zeit lang in verschiedenen Verbänden der Wehrmacht und der Waffen-SS. Auch die UPA, die Ukrainische Aufständische Armee, kollaborierte während der Zeit der Okkupation zeitweise mit den faschistischen Eroberern. Nach dem Krieg kämpften ihre Verbände wie Teile der OUN bis zur Zerschlagung Anfang der 1950-er Jahre im Untergrund gegen die Sowjetunion.
„Memorial“ und Islamismus
Laut Staatsanwaltschaft unterstützt „Memorial“ auch Terrorismus und Extremismus. Auf einer Liste „politischer Gefangener“, die „Memorial“ unterstützt habe, seien, so der Vorwurf, zum Beispiel auch Mitglieder der islamistischen Hizb ut-Tahrir. Für Hizb ut-Tahrir gibt es übrigens auch in Deutschland ein Betätigungsverbot. Die Bewegung kämpft für die Errichtung eines Kalifats.