Im Februar wäre Brigitte Reiman neunzig Jahre alt geworden – vor fünfzig Jahren starb sie. Ihre Erzählung „Die Geschwister“ ist soeben in englischer Übersetzung bei Penguin in der Reihe der internationalen Literaturklassiker erschienen. Sie schildert hautnah das Leben in der DDR, kurz bevor 1961 die Berliner Mauer geschlossen wurde.
Die westlichen Alliierten hatten 1948 die D-Mark in den Westzonen eingeführt und damit einen exklusiven Wirtschaftsraum geschaffen, dem im Mai 1949 die Gründung der BRD folgte. Im Oktober 1949 wurde die DDR gegründet. Sowjetische Pläne bis 1952 (vier Stalin-Noten), ein vereinigtes entmilitarisiertes Deutschland in Mitteleuropa als neutralen Puffer zwischen den Mächten des Kalten Krieges zu bilden, wurden vom Westen abgelehnt. Wir erleben derzeit wieder Ähnliches.
Von 1949 bis 1961 verblieben die Hoffnungen auf eine Wiedervereinigung Deutschlands im Osten. Als sich der Kalte Krieg jedoch zuspitzte, der Marshallplan die westdeutsche Wirtschaft ankurbelte, während die DDR allein Reparationszahlungen an die UdSSR leistete, kam es zu einem verheerenden Braindrain, Sabotage an ostdeutschen Produktionsstätten, Zehntausende Menschen arbeiteten im Westen und lebten im subventionierten Osten. Militärspionage trug dazu bei, die offene Grenze unhaltbar zu machen. Dies führte zur Schließung der innerdeutschen Grenze, um die Abwanderung von DDR-Fachkräften einzudämmen. Bis zum 13. August 1961 konnten die Menschen illegal über West-Berlin ausreisen, danach wurden alle Grenzen dicht gemacht.
Westliche Geschichtsbücher spinnen ihre eigene Version der Ereignisse als historische Tatsache. Als Zugang zur historischen Wahrheit kann die Kunst einer Epoche ein Gefühl für eine bestimmte Zeit vermitteln. „Die Geschwister“ tut dies für die fünfziger und frühen sechziger Jahre in der DDR.
Brigitte Reimann kannte die Zeit, über die sie schrieb, sehr genau. Der Erzählung „Die Geschwister“ waren andere Texte vorausgegangen, die das DDR-Lesepublikum auf sie aufmerksam gemacht hatten. Sie zeichnen die jüngere deutsche Geschichte nach, von der Nazidiktatur über die volle Anerkennung der Schuld der Vergangenheit bis hin zur Entscheidung einer ostdeutschen Familie, in welchem der beiden deutschen Staaten sie leben wollte (1963, „Die Geschwister“). In jeder dieser Novellen muss eine junge Frau schwere Entscheidungen treffen. Allesamt sind sie berufstätige Frauen, Protagonistinnen, die zu Reimanns Leitmotiv wurden. „Ankunft im Alltag“ (1961) signalisiert die Ankunft der Gesellschaft und ihrer Menschen in einer neuen Normalität, dem Aufbau des Sozialismus und der Arbeitswelt.
1959 fand in Bitterfeld eine bedeutende kulturpolitische Konferenz statt. Der jüngste Parteitag der SED hatte verfügt, dass die Arbeiterklasse in die Lage versetzt werden solle, die Höhen der Kunst zu erobern, dass die Unterschiede zwischen den sozialen Schichten überwunden und dass es keine Kluft zwischen Kunst und Leben geben solle. Der Schriftstellerverband legte daraufhin bei seiner Tagung im Chemiekombinat Bitterfeld fest, dass DDR-Autoren Zeit in der Produktion verbringen und in den Fabriken Zirkel für schreibende Arbeiter leiten sollten, aus denen später einige bekannte Literaten hervorgingen. Auch die Künstler selbst wurden ermutigt, über das Leben der Arbeiter zu schreiben. Brigitte Reimann unterstützte diese Bewegung.
In „Die Geschwister“ ist Elisabeth Malerin, die, wie auch die anderen Figuren in ihrem Umfeld, tief mit dem Leben in einem Braunkohlewerk verbunden ist. Um diesen industriellen Kern dreht sich die Novelle; er prägt das Leben der Figuren. Sie leitet dort eine Werkstatt für malende Arbeiter, von denen einige echtes Talent zeigen. In diesem Umfeld kommt es zu einer Vielzahl von Konflikten.
Reimanns Zeitgenossin Christa Wolf setzte sich in ihrer Novelle „Der geteilte Himmel“ (1963) mit dem gleichen Thema auseinander: Eine junge berufstätige Frau muss sich zwischen ihrem erfüllten Arbeitsleben in der DDR und der Flucht ihres Geliebten in den Westen entscheiden.
Beide Novellen spielen in den frühen sechziger Jahren in der DDR, kurz vor dem Bau der Berliner Mauer. Beide Autorinnen identifizieren sich mit der DDR, ebenso wie ihre Protagonistinnen. Reimann macht die Arbeitswelt zum Kernbereich ihrer Texte, in den ihre Figuren und deren Konflikte voll integriert sind. Am bekanntesten ist der unvollendete Roman „Franziska Linkerhand“ (1974, und der auf dem Buch basierende Film „Unser kurzes Leben“, 1981), in dem Reimann die Schwierigkeiten einer jungen Architektin thematisiert, die danach strebt, Städte zu bauen, in denen die Menschen leben können.
Epische Geschichten über Frauen bei der Arbeit, ihre wachsende soziale Gleichheit, die sich aus der wirtschaftlichen Unabhängigkeit ergibt, wurden zu einem Markenzeichen der DDR-Literatur. In der DDR-Kunst wurde die offenste soziale Kritik geäußert und so erhielt sie für DDR-Bürger eine hervorragende Bedeutung. Auch „Die Geschwister“ enthält Kritik an Parteiapparatschiks mit Tunnelblick. Die Familie, die einen Sohn an den Westen verliert und einen weiteren fast, hat jedoch einen Vater, der seinen Söhnen vorrechnet, was ihre Ausbildung die Gesellschaft gekostet hat und was ihre Abtrünnigkeit für den Staat finanziell bedeutet. Tochter Elisabeth identifiziert sich voll und ganz mit den Bestrebungen des sozialistischen Staates und kämpft für ihre Rechte und ihre Würde in dieser neuen Gesellschaft.
Die Novelle drückt, wie der Großteil der DDR-Literatur, das Vertrauen der Frauen in ihre gesetzlich garantierte gesellschaftliche Gleichberechtigung aus. Eng damit verbunden ist Reimanns Suche nach einer neuen Menschlichkeit, die sich mit der Entwicklung des Sozialismus herausbildet: wie sich Menschen verändern, wenn sie in einer Gesellschaft leben, die ihre Interessen vor den Profit stellt. Sie untersucht, inwieweit sie sich mit diesem Land identifizieren und wie sich dies auf ihren Alltag, auf ihre Beziehungen untereinander auswirkt. Im Mittelpunkt dieser Fragen steht die Rolle der Arbeit. Reimanns Darstellung des Braindrain und der Abwanderung von Fachkräften hat in der heutigen Welt sowohl innerhalb der EU als auch weltweit nichts an Aktualität verloren.
Die Literatur und Kunst der DDR wurde im Rahmen der umfassenden Umschreibung ihrer Geschichte durch den Westen weitgehend unterdrückt. Man muss sie lesen, um sich zu erinnern, was in Deutschland einmal möglich war.