Aijaz Ahmad (geboren 1941) starb am 9. März 2022. Der indische Marxist studierte in Lahore, Pakistan, wohin seine Familie nach der Teilung 1947 bis 1948 ausgewandert war und wo er in der politischen Bewegung dem Marxismus begegnete. Während der linken politischen Unruhen in Pakistan ins Visier der Behörden geraten, ging er nach New York und widmete sich seinen Leidenschaften für Lyrik und Politik.
In den 1980er Jahren nach Indien zurückgekehrt, lehrte er an verschiedenen Hochschulen in Delhi und befasste sich vor allem mit Postmoderne, Postkolonialismus, Liberalisierung, Hindutva sowie mit der neuen Weltordnung und den Globalisierungsbestrebungen der USA.
Der internationale Einfluss seines 1992 erschienenen Werks „Klassen, Nationen, Literaturen“, das nun erstmals in deutscher Übersetzung vorliegt, ist kaum zu überschätzen. Als der Marxismus ins Kreuzfeuer geriet, lieferte Ahmad eine differenzierte Darstellung nicht allein seiner Relevanz, sondern seiner Notwendigkeit. Den Kern seiner Analyse der Postmoderne und des Postkolonialismus bildet deren Ablehnung des Marxismus.
Ahmad spannt einen großen Bogen. Er gibt einen umfassenden Überblick über die politischen Entwicklungen von 1945 bis Anfang der 1990er Jahre, mit besonderem Augenmerk auf die antikolonialen und Befreiungsbewegungen im globalen Kontext als Hintergrund für die ideologische Auseinandersetzung, wie sie sich in der Literaturwissenschaft und speziell im Hinblick auf deren Beschäftigung mit der Literatur der sogenannten Dritten Welt vollzog.
In einem einleitenden Kapitel skizziert Ahmad den Hintergrund: „Von zentraler Bedeutung für die Thematik des vorliegenden Buchs ist vielmehr eine bestimmte politische Konfiguration von Autoren und Positionen, die insbesondere in bestimmten Zweigen der Literaturtheorie aufgetaucht ist und die sich um Fragen von Empire (…), Kolonien, Nation, Migrationserfahrung, Postkolonialität und so weiter gruppieren. Diese Fragen wurden seit den 1960er Jahren gestellt – zunächst unter den Insignien bestimmter Spielarten des Dritte-Welt-Nationalismus und dann, in jüngerer Zeit, auf offensichtlich poststrukturalistische Weise gegen die Kategorien von Nation und Nationalismus.“
Ahmad unterstreicht von Beginn sein marxistisches Herangehen an diese Fragen und kündigt einen grundlegenden Bruch mit bestehender bürgerlicher Theorie aller Fasson an.
Ausgehend von der Dialektik von Imperialismus, Kolonialisierung und dem Kampf für Sozialismus beschreibt Ahmad die Bedingungen, unter denen sich die anglo-amerikanische Literaturwissenschaft seit den 1960er Jahren entwickelte. Nach seinen Darlegungen des großen Kontexts und der ihn begleitenden theoretischen Strömungen setzt sich Ahmad im dritten Kapitel speziell mit dem US-Theoretiker Fredric Jameson auseinander, als der „repräsentativen und theoretisch anspruchsvollsten Äußerung der Position“.
Außer Jameson werden zwei weiteren Autoren eigene Kapitel und detaillierte Polemiken vorbehalten – Salman Rushdie und Edward Said. Das Rushdie-Kapitel befasst sich insbesondere beispielhaft mit dem Roman „Shame“ (1983, deutsch „Scham und Schande“, 2019), in dem Ahmad Rushdies Darstellung von Frauen kritisch analysiert.
Das längste Kapitel ist Said gewidmet, Ahmads Auseinandersetzung mit dessen Positionen in seinem Werk „Orientalismus“ als „bei weitem das lehramtlichste, einflussreichste, aber möglicherweise auch das am meisten mit Ambivalenz und inneren Widersprüchen ausgestattete Werk“ Saids. „Fakt bleibt jedoch, dass Said die zentrale Figur ist. Er hat praktisch alle Hauptpositionen zu den Fragen von Kolonie, Imperium, Nation und Postkolonialität, wie sie in der Literaturtheorie seit dem Erscheinen von ‚Orientalismus‘ im Jahr 1978 auftauchen, zumindest beeinflusst.“
Ein weiteres, kürzeres, doch sehr informatives Kapitel geht der Frage nach Marx‘ Position zu Indien nach und rückt Missverständnisse gerade, die in Saids Werk artikuliert werden. Wie Ahmad kommentiert, sind unqualifizierte und ungenügend recherchierte Angriffe auf Marx heutzutage gang und gäbe, auch dieses Kapitel also ein Lehrstück.
Im vorletzten Kapitel zur indischen Literatur setzt sich Ahmad mit dem konkreten Beispiel einer postkolonialen Literatur, der Indiens, auseinander. Er zeigt, wie gerade in der Anglistik, und hier verstärkt an den Elite-Universitäten, „diese parasitäre intellektuelle Abhängigkeit der indischen Universität von ihrem Gegenstück in den westlichen Metropolen so offensichtlich“ ist. In der Beschäftigung mit ihrer eigenen Literatur findet Ahmed „ein unvollendetes bürgerliches Projekt … der bürgerlichen, von der obersten Kaste organisierten Dominanz des Nationalstaates“.
Gleichwohl die Polemik gegen den Begriff „Dritte Welt“ das ganze Buch definiert, ist sie ausdrücklicher Gegenstand des abschließenden Kapitels anhand der Bandung-Konferenz, „in der der Begriff ‚Dritte Welt‘ zum ersten Mal auftauchte. Und zwar, um vorerst eine ganz andere Bedeutung zu erhalten als die, die dem Begriff dann später zugeschrieben wurde.“
Das teilweise im Original nicht immer leicht zu lesende Werk Ahmads ist sehr lesbar von Ina Batzke übersetzt und dem Mangroven Verlag ist für diese Bereicherung marxistischer Theorie zu danken. Für interessierte Leser ist diese Darstellung aus der Perspektive der Nicht-Ersten-Welt so entscheidend wie auch die des Kenianers Ngũgĩ wa Thiong’o (Dekolonisierung des Denkens – Essays über afrikanische Sprachen in der Literatur 1986/deutsch 2017).
Diese Rezension kann nur andeuten, was Leser an Einsicht, marxistischer Analyse, Denkanstößen und Wissen über die Vielfalt der Literaturen der Nicht-Ersten-Welt vor allem des Ostens erwartet und bereichert. Die gegenwärtige Lage bezüglich der Ukraine verdeutlicht erneut den erschreckenden und zutiefst rassistischen Euro-/Erste-Welt-Zentrismus, der den Blick auf die ganze Welt verhüllt. Gegen solchen exklusiven, von den kolonialen Mutterländern definierten Blick hat Ahmad auf seinem Gebiet gekämpft.
Aijaz Ahmad
Klassen, Nationen, Literaturen. Eine theoretische Betrachtung.
Übersetzt von Ina Batzke
Mangroven Verlag, 2022, 26 Euro