Große Erzählkunst
Ende Dezember würde Theodor Fontane seinen 200. Geburtstag feiern. Sein letztes großes Werk, „Der Stechlin“, erschien 1897, ein Jahr vor seinem Tod. Die Handlung des Romans ist bemerkenswert ereignisarm, wie Fontane selbst eingestand: „Zum Schluss stirbt ein Alter, und zwei Junge heiraten sich; – das ist so ziemlich alles, was auf 500 Seiten geschieht. Einerseits auf einem altmodischen märkischen Gut, andererseits in einem neumodischen gräflichen Hause (Berlin) treffen sich verschiedene Personen und sprechen da Gott und die Welt durch. Alles Plauderei, Dialog, in dem sich die Charaktere geben, und mit ihnen die Geschichte.“ Diese Konzentration auf das Sprechen gilt als eines der wichtigsten Merkmale realistischen Erzählens, und Fontane selbst hielt dies „für die gebotene Art, einen Zeitroman zu schreiben“. Der Roman kann also durchaus den Anspruch erheben, als Abbildung der gesellschaftlich-politischen Verhältnisse zu gelten, er entwirft ein Zeitpanorama und gilt zu Recht als große bürgerliche Erzählung. Was als Problem dieses Erzählens gilt: Das Kunstwerk muss der Wirklichkeit so ähnlich wie möglich gemacht und doch zugleich als Kunst bemerkt werden, kann im „Stechlin“ als gelöst gelten, wird doch die gewünschte Autonomie der Kunst hier durch eine symbolische Verdichtung, eine ironische Überhöhung des Sprechens und darüber Schreibens erreicht.
Herbert Becker
Theodor Fontane, Der Stechlin, Fischer TB, 15,- Euro
Reisen, sehen, lesen
Der Reisetipp: Ein Wochenende in Luxemburg.
Der Sehtipp: Zwei eindrucksvolle Ausstellungen.
1. „The Family of Man“ ist eine der wichtigsten Ausstellungen in der Geschichte der Fotografie. Sie wurde nach vierjähriger Vorbereitung 1955 im Museum of Modern Art (MoMA) in New York eröffnet und danach ein Jahrzehnt lang in der ganzen Welt gezeigt. Der Direktor der Fotoabteilung des MoMA, Edward Steichen (1879–1973), wollte mit seiner Ausstellung ein Zeichen setzen für die Menschlichkeit, gegen den Kalten Krieg und gegen die Gefahr eines Atomkriegs. Seit 1994 ist „The Family of Man“ in Clervaux (Luxemburg) zu sehen und mittlerweile Teil des Weltdokumentenerbes der UNESCO. Die Aufnahmen von Fotografen wie Robert Capa, Henri Cartier-Bresson, Wayne Miller und vielen anderen werden auf spektakuläre Weise in Szene gesetzt.
2. „The Bitter Years“ ist eine Hommage an die Dokumentarfotografie. Sie umfasst mehr als 200 Aufnahmen aus einem der größten Gemeinschaftsprojekte der Geschichte der Fotografie. Walker Evans, Dorothea Lange, Arthur Rothstein, Russell Lee und andere dokumentierten für die Farm Security Administration der US-Regierung das ländliche Leben der Vereinigten Staaten zur Zeit der großen Depression der 30er Jahre. Zu sehen sind die Bilder im Waassertuerm+Pomhouse in Düdelingen, im Süden des Landes. Auch diese Ausstellung war eine Idee Steichens.
Der Lesetipp: Von beiden Ausstellungen gibt es (auch im Buchhandel) hervorragend gestaltete Kataloge.
Thomas Brenner
The Family of Man, Edward Steichen (Hrsg), 192 Seiten, 503 Fotos, 25 Euro
The Bitter Years, Edward Steichen and the Farm Security Administration Photographs, geb., 288 Seiten, 209 Fotos, 25 Euro
Wer fällt das Urteil?
Schon der Titel des schmalen Buches ist eine wütende Anklage: „Wer hat meinen Vater umgebracht“. Ohne Fragezeichen.
Nach Jahren nimmt der Autor wieder Kontakt zu seinem Vater auf – nicht als Erzähler-Ich, nein, Edouard Louis selbst. Dass die beiden sich lange nicht sahen, hat viele Gründe. Der Vater war seiner Rolle nicht gewachsen, gefühlsgehemmt, alkoholabhängig. Zwischen ihnen stand seine Gewalttätigkeit und seine Art, sich als Mann zu definieren. „Ein Mann sein, sich nicht wie ein Mädchen, wie eine Schwuchtel aufführen.“ Kein Lebensentwurf, kein Traum.
Jetzt findet der Sohn eine abgelebte, an Körper und Geist verwüstete Menschenruine vor. Ein Arbeitsunfall in der Fabrik hat seinen Körper zu Knochenschrott gemacht. Gesetze verpflichteten ihn, sich dennoch „aktiv um Arbeit zu bemühen“. Trotz seiner Wirbelsäulenverletzung nimmt er einen Job als Straßenkehrer an, dem er irgendwann auch nicht mehr gewachsen ist. (Wer hat das Urteil gefällt?). Namen französischer Politiker werden genannt – sie sind leicht durch deutsche zu ersetzen –, die verantwortlich sind für das Abdrängen solcher Menschen an den unteren Rand der Gesellschaft. Politik ist organisierte Gewalt.
Sie reden. Miteinander und nicht (wie in der Linken üblich) übereinander. Etwas verbindet die beiden, sie erkennen, es ist Liebe, die den anderen als einzigartig akzeptiert (und dem Vater hilft, seine aggressive Abneigung gegen den schwulen intellektuellen Sohn zu überwinden). Der schließt sich den Gelbwesten an. Der letzte Satz des Buches, „… ich glaube, was es bräuchte, das ist eine ordentliche Revolution“, ist ihr gemeinsames Programm.
Manfred Idler
Edouard Louis: „Wer hat meinen Vater umgebracht“. S. Fischer Verlag, 80 Seiten, 16,- Euro
Kein Pardon
Es ist das Jahr 2144. Jack ist Patent-Piratin, also jemand, die die Patent-Rechte großer Pharmakonzerne verletzt, indem sie Medikamente produziert und billig auf den Schwarzmarkt bringt. Als sie eine Kopie der beliebten Droge „Zacuity“ in Umlauf bringt, erkennt sie die mit der Droge verbundenen heftigen Nebenwirkungen: Arbeit macht damit nicht nur Freude, wie der Hersteller verspricht, Arbeit wird zur Sucht. Wer „Zacuity“ einnimmt, arbeitet sich regelrecht zu Tode. Sie ist davon überzeugt, dass dies eine Eigenschaft der Originaldroge ist und der Fehler nicht bei ihr liegt. Während Jack versucht zu beweisen, dass die Droge vom Hersteller so designt ist, dass Arbeit für die Nutzer zum Wahn wird, hetzen die Pharmakonzerne ihr den Agenten Elias und Paladin, einen autonomen Kampfroboter, auf den Hals. Wenn es dem Schutz der Patent- bzw. Eigentumsrechte der Pharmakonzerne dient, darf es dabei auch blutig zugehen. Das Patentrecht hat Vorrang.
Ein Roman über Künstliche Intelligenz und über die Zukunft von Arbeit und Liebe.
Lars Mörking
Annalee Newitz: Autonom (SF-Roman), Fischer TOR, 352 Seiten, 14,99 Euro
Wichtige Analysen
Warum gibt es in Europa so viele Nationen? Worin unterscheiden sich die Wege ihrer Herausbildung? Warum bildete sich keine gemeinsame arabische Nation? Was sind ökonomische, politische und ideologische Voraussetzungen der Nationsbildung? Was bedeutet Ethnizität? Gibt es linken und rechten Nationalismus?
Alfred Kosing zeigt auf, dass die Entstehung der kapitalistischen Gesellschaftsformation die entscheidende Grundlage der Nationsbildung ist. Auf ihr entsteht die Nation als „sekundäre Vergesellschaftungsform“ und als „Entwicklungsform der bürgerlichen Gesellschaft“. Das ökonomische Fundament ist jedoch nicht die ganze Nation.
Sie ist ein komplexes Phänomen eigener Art, welches sowohl im gesellschaftlichen Sein als auch im gesellschaftlichen Bewusstsein, sowohl in der materiellen Basis der Gesellschaft als auch in ihrem institutionellen und ideellen Überbau, sowohl in der objektiven wie auch in der subjektiven Sphäre der Gesellschaft präsent ist und wirkt.
Kosings Buch bietet reichhaltiges Wissen zu einem oft unverstandenen Thema an.
Beate Landefeld
Alfred Kosing, Haben Nation und Nationalstaat eine Zukunft? Ein Beitrag zur Erneuerung der marxistischen Nationstheorie. Edition Ost, 687 Seiten, 25 Euro
Ein Blick zurück
August 1956 – Lion Feuchtwanger lebt als einer der letzten deutschen Exilanten immer noch im kalifornischen Pacific Palisades, permanent im Visier der Hetzer der McCarthy-Ära. Als es eines Morgens an seiner Tür klingelt, erwartet er schon fast einen Boten mit der Vorladung, vor der er sich schon seit Jahren fürchtet, denn „die fanatischen Hetzer wie der Senator Nixon kochen immer noch ihr widerliches Süppchen auf der Flamme des Antikommunismus, versuchen ihre Paranoia zur Staatsdoktrin zu machen“.
Doch statt der Vorladung erhält er ein Telegramm. Es ist aus Ostberlin, von Johannes R. Becher, und informiert ihn über den Tod Bertolt Brechts.Klaus Modick lässt in seinem Roman „Sunset“ Lion Feuchtwanger über das Leben und den Antikommunismus der McCarthy-Ära sinnieren, vor allem aber lässt er ihn in Erinnerungen eintauchen, so an die lebenslange Freundschaft mit Brecht, an die Münchener Räterepublik, an die literarischen Erfolge der 1920er Jahre bis zum Leben im Exil. Modick gönnt sich kaum dichterische Freiheit, sondern hält sich an aus Briefen, Tagebüchern und Journalen bekannte Begebenheiten und zeichnet, durch den Blickwinkel des alten Feuchtwanger, ein Bild von Politik, Literatur und Exil der deutschen Literatur-Szene in der ersten Häfte des 20. Jahrhunderts.
Melina Deymann
Klaus Modick, Sunset. Piper, 2012. 192 Seiten, 10 Euro
Drei Jahre Geschichte einer Provinz
München in der Zeit der großen Inflation und des Hitler-Ludendorff-Putsches. Anlass der Geschichte, um die sie sich formal dreht, ist die ungerechte Verurteilung eines Kunsthistorikers wegen Meineides. Anhand dieses Vorgangs schildert Feuchtwanger die Einseitigkeit und extrem rechte Gesinnung der Betreiber der Staatsmaschinerie – zum großen Teil mit unglaublich lässiger Ironie. Ein Vergnügen ist es, über die wahren Herren in Bayern zu lesen. Dazu das Klein-, das Großbürgertum, die Kulturschaffenden, die Sozis, die Kommunisten, die Nazis. Alles scheint bis ins letzte Detail zu stimmen. Dazu kommt die intime Kenntnis bayrischer Redewendungen, wie zum Beispiel in der Kapitelüberschrift „Klenk ist Klenk und schreibt sich Klenk“ über den – fiktiven, aber dennoch sehr realen – Justizminister, die dessen in sich selbst ruhenden reaktionären Machtanspruch deutlich macht. Überzeugend fällt auch die Darstellung von Hitler selbst aus, die – das ist das Erstaunliche – wie das ganze Buch vor 1933 geschrieben wurde. Vollends köstlich ist es, wenn Feuchtwanger sich selbst als Autor porträtiert.
Ach, hätten wir doch ein solches Werk über die heutige Bourgeoisie.
Lucas Zeise
Lion Feuchtwanger: Erfolg, Aufbau-TB, 16,-Euro
Keine Angst vor Algorithmen
Was wäre, wenn Computer dem Menschen und nicht dem Profit dienen würden?
„Virtuelle Realität“, „Industrie 4.0“, „Künstliche Intelligenz“ sind Schlagwörter, die man schon mal gehört hat, nicht genau weiß, worum es dabei geht und die negative Gefühle auslösen, weil sie heute Arbeitsplatzabbau, Überwachung und dystopische Visionen bedeuten. Aber das ist nur eine Seite der Medaille, nämlich die kapitalistische. In der „Digitalisierung“ stecken jedoch auch Potentiale, die – platt gesagt – eine funktionierende Planwirtschaft möglich machen könnten.
Die Debatte um den emanzipatorischen Gehalt des Wandels, der uns die letzten Jahrzehnte umherwirbelt, geht weitgehend an der DKP vorbei. Die Diskussionen führen andere. In „Kybernetik, Kapitalismus, Revolutionen“ kommen alle mehr oder weniger namhaften Diskutanten zu Wort. Wer in die Debatte einsteigen möchte, erfährt auf 304 Seiten komprimiert, welche Ideen diskutiert werden und wie viel Unfug entsteht, wenn Kommunisten den Mund halten.
Christoph Hentschel
Paul Buckermann, Anne Koppenburger, Simon Schaupp (Hg.), Kybernetik, Kapitalismus, Revolutionen – Emanzipatorische Perspektiven im technologischen Wandel. Unrast-Verlag, 19,80 Euro
„So einer geht uns nicht verloren“
Zugegeben, ich war skeptisch, als die Genossen aus Sonneberg für den Abend eines Wochenendseminars noch eine Buchvorstellung vorschlugen. Das Bildungsseminar in Weimar mit Genossinnen und Genossen aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen drehte sich um die Bildungszeitung „DKP und Arbeiterklasse heute“. Drei Referenten wechselten sich bis in den Abend ab und forderten alle Aufmerksamkeit. Ein bis zwei Bier, Kennenlernen, Erfahrungsaustausch waren die Alternative. Wie gut, dass wir damit erst zwei Stunden später begannen.
Brigitte Dornheim nahm mit ihrer Erinnerung an Erik Neutsch’ „Auf der Suche nach Gatt“ den Faden des Seminars wieder auf, das auch zu Fragen von Demokratie und betrieblicher Mitbestimmung in der DDR geführt hatte. Die Genossin nahm uns im wahrsten Sinne der Worte mit. Nicht zuletzt auf die Straßen am 17. Juni 1953, wo es der Arbeiter Gatt – Bergwerk, Schulbank, Parteizeitung – trotz Weisung „Jeder an seinem Platz“ – nicht aushält in der Redaktion. Er muss raus, die Genossen sammeln, die Revolution verteidigen, verteufelt die Zurückgebliebenen als Feiglinge, findet Mitstreiter, fängt sich Schüsse von Faschisten ein. „So einer geht uns nicht verloren“ sagt die Genossin. Gatt verliert mehrfach alles – Liebe, Arbeit, Vertrauen in Partei, Genossen, in das Ganze – und kämpft sich immer wieder zurück. „Wir wurden ins Wasser geworfen, ohne das Schwimmen gelernt zu haben. … Während des Kämpfens mussten wir lernen zu kämpfen. …
Ich wurde ans Ufer geschleudert, an den Rand. Aber dort kann ich nicht leben. Verstehst du das?“ Gatt bleibt der „rote Agitator“ und wir lernen viel über das Einfache, das so schwer zu machen ist. Ein Dank nach Sonneberg.
Wera Richter
Erik Neutsch „Auf der Suche nach Gatt“
Die vorgestellten Bücher können über den Neue-Impulse-Verlag.de bestellt werden, sie sind auch im Buchhandel erhältlich.