Aung San Suu Kyi ist nicht nur Außenministerin von Myanmar (dem ehemaligen Birma), sondern führt als „Staatsberaterin“ faktisch auch die Regierungsgeschäfte. In einer lang erwarteten Rede sprach sie am vergangenen Wochenende zu den Grundlinien der ökonomischen Politik ihrer Regierung. Sie gab zu, dass sich die Wirtschaft des Landes in den letzten Monaten nicht so entwickelt hat wie erhofft, und rief die anwesenden Geschäftsleute auf, mehr an das Gemeinwohl zu denken und weniger an den persönlichen Gewinn. Die einfachen Menschen erwarteten endlich Zugang zu Elektrizität, zu sauberem Wasser, zu medizinischer Hilfe und bezahlbare Lebensmittel.
Die Resonanz des auserwählten Publikums, welches sogar unter südostasiatischen Verhältnissen als besonders korrupt gilt, war nach der Rede denkbar verhalten. Erwartet worden waren konkrete Aussagen zur rechtlichen Sicherheit von Investitionen, zur zukünftigen Steuerpolitik und zur Geldpolitik angesichts einer hohen Inflation. Bemängelt wurde von den Wirtschaftsbossen vor allem, dass sich die Regierung zu viel mit ethnischen Fragen abgeben würde. Diese Bemerkung zielte auf einen wieder entflammten ethnischen Konflikt, der während des offiziellen Besuches von Aung San Suu Kyi in Indien am 19. Oktober zur Sprache kam. Von der Presse zu den letzten Ereignissen im Rakhine-Staat befragt, hatte sie Armee- und Polizei ihres Landes aufgefordert, in diesem westlichen, an der Grenze zu Bangladesch liegenden Teil von Myanmar nach Recht und Ordnung zu operieren. Während Myanmar überwiegend buddhistisch geprägt ist, gibt es im Rakhine-Staat einige Gebiete, in denen die muslimischen Rohingya – geschätzt wurden sie vor einigen Jahren auf etwa 800 000 Menschen – die Bevölkerungsmehrheit stellen. Anfang des Monats hatten einige hundert Bewaffnete, von Bangladesch kommend, dort Grenzposten und eine Polizeistation überfallen. Die Armeeführung sprach von muslimischen Terroristen, die von Pakistan und Saudi-Arabien Unterstützung bekommen hätten.
Gleichzeitig tauchten im Netz Aufnahmen auf, die Menschengruppen im Rakhine-Staat zeigten, als sie „allahu akhbar“ skandierten. Die Armee hatte daraufhin das Gebiet der Rohingya-Bevölkerung zu einer Zone des Kampfes mit dem muslimischen Terrorismus erklärt. Menschenrechtsgruppen erhalten aber trotz Absperrung Hinweise, dass die Soldaten nach der alten brutalen Manier vorgehen, d. h. eine unbekannte Zahl von Zivilisten ermorden und deren Behausungen abbrennen. Hartnäckig hält sich auch die Behauptung, dass örtliche Hindus angehalten worden sind, als aufgeputschte Rohingya zu posieren, da beide Volksgruppen eine vergleichsweise ähnliche dunkle Hautfarbe haben.
Die sehr verhaltenen, fast verschämten Äußerungen zu den Ereignissen durch Aung San Suu Kyi während ihres Indien-Aufenthaltes waren für Vertreter von Menschenrechtsorganisationen befremdlich. Es ist kaum anzunehmen, dass sie nicht die blutige Wahrheit kennt. UZ sprach mit Anhängern von Aung San Suu Kyi, die in Bangkok studieren. Im vertraulichen Gespräch räumen sie ein, dass nach wie vor die Armeeführung und das Innenministerium die wichtigen politischen Entscheidungen treffen. Daran habe auch ihr Wahlsieg nichts geändert. Angesichts dieser momentanen Machtverhältnisse müsse sich die Friedensnobelpreisträgerin im Moment eben noch zurückhalten und könne nicht die offene Konfrontation suchen.
Armeechef Min Aung Hlaing hatte kürzlich in einem seiner seltenen Interviews rundweg geleugnet, dass es historisch überhaupt eine Ethnie der Rohingya gibt. Die angeblichen Rohingya, so der General, seien in Wirklichkeit „muslimische Bengalen“, deren Vorfahren durch die koloniale Verwaltung Britisch-Indiens in den 1880er Jahren aus dem Nordosten Südasiens als Landarbeitsmigranten zur Arbeit in Birma angeworben worden waren. Diese „Bengalen“ könnten daher auch nicht Staatsbürger von Myanmar werden.
Es war 1989, als die Armee begann, birmesische Buddhisten in bisher von der Rohingya-Bevölkerung dominierten Gebieten anzusiedeln. Land und Häuser der Rohingya gingen zwangsweise in birmesischen Besitz über, 145 000 von ihnen wurden gezwungen, ihre Heimat in Richtung Bangladesch zu verlassen. Dann flohen 2012 wieder, in einem unbeschreiblichen Elendszug, Tausende vor Armee und dem buddhistischen Mob („Wer hier mitlaufen muss, wird für den Rest seines Lebens traumatisiert sein“, stand dazu in der UZ vom 22. Juni 2012). Im vergangenen Jahr wurden im thailändisch-malaysischen Grenzgebiet mehrere dutzend Massengräber entdeckt, in denen Rohingya-Flüchtlinge verscharrt worden waren. Sie waren auf ihrem Weg nach Südostasien in Thailand und Malaysia von Menschenhändlern in Dschungellagern gefangen gehalten worden und dort an Krankheiten und erlittenen Torturen verstorben.
Myanmars Militär hat in der Vergangenheit seine Macht auch deshalb erhalten können, weil der überwiegende Teil des buddhistischen Myanmars die völkermordende Politik der Generäle gegenüber den Rohingya mitgetragen hat. Das ist eine bittere Wahrheit. Auch in Aung San Suu Kyis Nationaler Liga für Demokratie herrscht – bisher – Konsens, dass die Rohingya-Bevölkerung das Land verlassen sollte. Dass eine Bevölkerungsgruppe, denen man Menschlichkeit verwehrt, auch zu gewaltsamen, alles vernichtenden Aktionen fähig sein kann, ist anscheinend noch nicht verstanden worden.