Stell dir vor, du hast Spätdienst im Pflegeheim und niemand kommt, um dich abzulösen. Zumindest niemand, der für diesen Job ausreichend qualifiziert ist. So geschehen Mitte April in einer privat betriebenen Pflegeeinrichtung in Berlin. Die betroffene Kollegin wusste sich nicht mehr anders zu helfen und wählte den Notruf. In einer privatisierten Pflegewelt, in der Personal ein unangenehmer Kostenfaktor ist, sind solche Zustände leider viel zu häufig Alltag. Alles, die Zuteilung von Handschuhen, Desinfektionsmitteln, Inkontinenzmaterial und Essen bis hin zum Personal, wird brutalstmöglich knapp, das heißt „betriebswirtschaftlich“ kalkuliert. Denn jeder Euro, der zugunsten der Bewohnerinnen und Bewohner ausgeben wird, schmälert die Profithöhe der Heimbetreiber und Kapitalgeber.
Es gibt eine ständige „Augen zu und durch“-Mentalität, in der wirklich allen Beteiligten bewusst ist, dass bezüglich Besetzung, Versorgung und fachgerechter Dokumentation gerade Rechtsbeugung, wenn nicht Rechtsbruch begangen wird. Dass man diese Zustände trotzdem gemeinsam toleriert, um den täglichen Wahnsinn zu überstehen, kann für Pflegebedürftige tödlich enden. All das kennen und erleiden hunderte, wenn nicht tausende Kolleginnen und Kollegen tagtäglich. Der Fall der Pflegerin in Berlin ist nicht deshalb so ungewöhnlich, weil keine Ablösung kam, sondern weil sie nicht bereit war, die Notsituation stillschweigend hinzunehmen.
Doch warum tragen so viele engagierte Kolleginnen und Kollegen es mit, wenn Gesetze im pflegerischen Alltag missachtet werden? Warum dokumentieren sie Handlungen, die aus Zeit-und Personalmangel nicht ausgeführt wurden? Warum wird akzeptiert, dass eine Fachkraft für ein ganzes Pflegeheim ausreichend sein soll? Das Perverse am profitorientierten Pflegesystem ist, dass es Vorgesetzten und Trägern gleichsam die Mittel an die Hand gibt, disziplinarisch gegen die Kollegen vorzugehen, die sich wehren. In dem Moment, wo sie öffentlich machen, was sie aus Überlastung alles nicht geschafft haben, wird ihnen Pflichtverletzung und Überforderung vorgeworfen. Das kann auch zu Abmahnungen und Kündigungen führen.
Unser Problem in der Altenpflege ist also nicht die einmalige Panne, sondern der wahnsinnige kapitalistische Normalzustand. Deshalb zahlt es sich nicht aus, Gesetzesverstöße mitzutragen. Am Ende lässt dich der Heimbetreiber über die Klinge springen. Hilfreicher ist die (gewerkschaftliche) Organisierung, anstatt sich bei Fehlverhalten der Leitung, bei Verstößen gegen die Arbeitszeitgesetzgebung, Vorbehaltsaufgaben und Dokumentationspflichten gemeinsam mitschuldig zu machen. Im Zweifelsfall muss eben der Rettungsdienst kommen. Jede Kollegin, die das mit durchzieht, verringert den Druck für alle. Wirkliche Abhilfe schafft auf lange Sicht aber nur ein effektives Verbot von Gewinnerwirtschaftung im Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge.
Man könnte meinen, vor dem Hintergrund dieser Zustände in der Altenpflege wären auch politisch Verantwortliche für jede helfende Hand in der Pflege dankbar. Weit gefehlt: In Nürnberg hat die Ausländerbehörde gerade die Abschiebung eines Kollegen aus dem Irak angeordnet. Er sei schließlich „nur“ ein einjährig gelernter Pflegefachhelfer, keine Pflegefachkraft. Und Pflegehelfer, also der Beruf der Kolleginnen und Kollegen, die Menschen anziehen, waschen, zur Toilette begleiten und ihnen Essen anreichen, ist laut Auskunft der Ausländerbehörde kein „Mangelberuf“. Ich wünsche der Person, die diese Einschätzung getroffen hat, eine Woche lang das Arbeiten in Unterbesetzung in einem Altenpflegeheim. Dort ist der angeblich nicht vorhandene „Mangel“ an Pflegekräften der Grund dafür, dass immer mehr Menschen unversorgt bleiben und das Personal unter dem Arbeitsdruck zusammenbricht.
Unsere neue UZ-Kolumnistin ist Altenpflegefachkraft und Kandidatin der DKP zu den EU-Wahlen.