Es empfiehlt sich, das neben anderen von Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine betriebene Projekt „Aufstehen“ nicht nach seiner – keineswegs ungeschickten – medialen Präsentation zu beurteilen, sondern nach seinen Zielen.
Hiergegen kann eingewandt werden, sie seien nicht bekannt.
Soweit es das Fehlen eines programmatischen Dokuments angeht, trifft dies vorerst noch zu. Doch haben einige Befürworterinnen und Befürworter von „Aufstehen“ sich in der Vergangenheit so ausführlich über ihre Anliegen geäußert, dass sich Umrisse abzeichnen:
Erstens fordern sie eine Wende von der seit Jahrzehnten forcierten Umverteilung von unten nach oben in ihr Gegenteil, unter anderem durch eine neue Steuer- und Abgabenpolitik, sowie das Ende der Agenda 2010.
Zweitens sei eine Änderung der Währungspolitik nötig. Der einheitliche Euro für Volkswirtschaften unterschiedlicher Leistungsfähigkeit mache die starken Ökonomien stärker, die schwachen noch schwächer. Stattdessen solle Letzteren die Möglichkeit gegeben werden, sich durch eine eigene Währung und im Bedarfsfall durch deren Abwertung gegen wirtschaftliches Ausbluten zu schützen. Mit dem verbleibenden Euro der stärkeren Länder könnten sie in einen Verbund eintreten, wie es ihn einst zwischen D-Mark, Franc, Lira usw. schon gab.
Drittens: Sozialstaatlichkeit – sie entspricht im Wesentlichen derjenigen, wie sie vor Kohl und Schröder bestand – könne am besten mit den bestehenden nationalen Institutionen gewährleistet werden. Diese seien demokratischer als die Brüsseler Bürokratien und auch – wenngleich inzwischen durch marktradikale Politik geschwächt – leistungsfähiger. Zuwanderung dürfe nur nach Maßgabe der vorhandenen Ressourcen erfolgen.
„Aufstehen“ geht davon aus, dass viele Mitglieder der SPD und der Partei „Die Linke“ diese Ansichten teilten, sich durch deren Führungen aber nicht mehr vertreten sähen. Soweit die Köpfe der angestrebten Sammlungsbewegung dies von der Basis der „Grünen“ annehmen, irren sie.
Prüfen wir diese Behauptungen.
Die Stimmenverluste der SPD und im Osten der Linkspartei nicht nur durch Abwanderung zur AfD, sondern auch durch Wahlenthaltung könnten tatsächlich Ausdruck solcher Unzufriedenheit sein. Dass die „Alternative für Deutschland“ eine marktliberale Wirtschafts- und Sozialpolitik vertritt, spricht nicht unbedingt dagegen. Sie erhält dennoch Stimmen auch von Benachteiligten, die keine Programme lesen und schlechte Laune haben.
„Aufstehen“ will Druck auf SPD und Linkspartei ausüben, damit diese ihre bisherige Politik revidieren. Dafür sind die Aussichten schlecht.
Die SPD hat sich nicht von der Agenda 2010 abgewandt, auch nicht unter Martin Schulz, der nur kurze Zeit so tat, als ob. Europapolitisch besteht zwischen ihr und „Aufstehen“ keine Gemeinsamkeit, wohl aber in der Migrationspolitik, die sie gemeinsam mit der Union betreibt und die de facto auch mit derjenigen von Lafontaine und Wagenknecht übereinstimmt.
Die Spitze der Linkspartei erhebt seit Jahren schon dieselben sozial-, wirtschafts- und steuerpolitischen Forderungen wie die nun angekündigte Sammlungsbewegung. In den Fragen der Währung und der Migration ist sie handlungsunfähig, da heillos zerstritten. Die Ko-Parteivorsitzende Katja Kipping befürwortet offene Grenzen, setzt auf die neuen urbanen intellektuellen Mittelschichten und sieht sich darin durch Wahlerfolge in Großstädten – einschließlich der Metropole Berlin – bestätigt. Zuweilen wird ihr der Vorwurf gemacht, sie nehme die Schwäche in der ländlichen Fläche und die Verluste im Osten zu leicht. Bernd Riexinger folgt ihr vielleicht nur aus Beschlusstreue. Als seine Basis gilt eine Minderheit im mittleren gewerkschaftlichen Funktionärskörper, die aber wahlpolitisch kein großes Gewicht besitzt und offenbar noch kein Rezept dagegen gefunden hat, dass die DGB-Verbände schwächer werden und die AfD unverhältnismäßig viele Sympathisanten unter deren Mitgliedern hat.
Ein etwaiger Druck von „Aufstehen“ wird allenfalls langfristig einen Kurswechsel von SPD und Linkspartei bewirken können. Ob er bis dahin aufgebaut und aufrechterhalten werden kann oder ob der Sammlungsbewegung bis dahin die Luft ausgeht, lässt sich gegenwärtig nicht sagen. Einiges wird von den drei ostdeutschen Landtagswahlen 2019 abhängen. Verlöre „Aufstehen“ die Geduld und träte bei den Eurowahlen an – hier gilt nicht die Fünf-Prozent-Klausel –, wäre dies wahrscheinlich Erfolg und Ende zugleich. Sahra Wagenknecht und ihre Anhängerinnen und Anhänger schlügen sich damit ihr Standbein in der Linkspartei weg.