Auslöser Fahrpreiserhöhungen: Millionen gehen auf die Straße – Präsident schickt Militär

Aufstand in Chile

Von Manuela Tovar

Drei Mal war es gut gegangen, doch die vierte Erhöhung der Fahrpreise der U-Bahn von Santiago de Chile innerhalb von zwei Jahren war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Nachdem Chiles Staatschef Sebastián Piñera Anfang Oktober eine weitere Anhebung der Tarife ankündigte, begannen zunächst vor allem studentische Gruppen mit Protestaktionen. Es kam zu organisiertem Schwarzfahren, bei dem die Teilnehmer die Zugangssperren demonstrativ überkletterten und das Zahlen der neuen Preise verweigerten. Die Antwort der Staatsmacht war Repression: Die paramilitärischen Carabineros gingen gegen die Jugendlichen vor, es kam zu gewaltsamen Zusammenstößen. Metrostationen wurden beschädigt und geschlossen, Demonstranten verletzt und festgenommen. Zugleich kam es jedoch immer mehr zu Sympathiebekundungen gegenüber den Protestierenden – zumal Regierungsvertreter mit zynischen Sprüchen Öl ins Feuer gossen. So wies Finanzminister Felipe Larraín darauf hin, dass die Preise für Blumen gesunken seien und dies eine gute Gelegenheit für „Romantiker“ sei, während Wirtschaftsminister Juan Andrés Fontaine den Chilenen nahelegte, einfach früher aufzustehen, um günstigere Züge zu nehmen. In den frühen Morgenstunden sollte ein ermäßigter Tarif gelten.

Die Proteste eskalierten am 16. Oktober. Mitten während der Hauptverkehrszeit wurden die Metrostationen geschlossen, in Santiago brach ein Verkehrschaos aus. Doch die Rechnung der Regierung ging nicht auf, der Unmut der Menschen richtete sich nicht gegen die Demonstranten, sondern gegen das Kabinett. Auch die Gewerkschaften der Metro betonten, dass sie in den wütenden Studierenden keinen Feind sahen – und diese keinen Gegner in den Beschäftigten der Verkehrsbetriebe.

Am 19. Oktober verhängt Piñera den Ausnahmezustand über die Hauptstadt und einige weitere Regionen. Zum ersten Mal seit dem Ende der Pinochet-Diktatur wurde das Militär gegen Demonstranten eingesetzt. Das Oberkommando verhängte nächtliche Ausgangssperren über Santiago und weitere Städte und Provinzen. Trotzdem breiteten sich die Proteste über das ganze Land aus. Nun waren es nicht mehr nur Schüler und Studierende, die aufbegehren, sondern auch Bergleute, Hafenarbeiter, Lehrer und viele weitere. Am 23. und 24. Oktober riefen der Gewerkschaftsbund CUT und viele weitere Organisationen zu einem zweitägigen Generalstreik auf, der massenhaft befolgt wurde. Und am 25. Oktober schließlich kam es in Santiago de Chile zu der wohl größten Demonstration in der Geschichte des Landes. Mehr als 1,2 Millionen Menschen, so die Stadtverwaltung, versammelten sich auf der Plaza de Italia im Zentrum der Hauptstadt. Zeitgleich demonstrierten in vielen weiteren Städten Hunderttausende Menschen.

Als Reaktion darauf forderte Piñera am vergangenen Sonnabend sein gesamtes Kabinett zum Rücktritt auf und kündigte an, im Parlament eine „soziale Agenda“ einbringen zu wollen, die einige Erleichterungen für die Bevölkerung vorsehen werde. Doch die Opposition wies das umgehend zurück. Die Kommunistische Partei Chiles kündigte an, im Kongress eine Verfassungsklage gegen den Staatschef sowie dessen Innenminister Andrés Chadwick einbringen zu wollen. Letzterer – ein Cousin des Präsidenten – war besonders in die Kritik geraten, weil er für die Einsätze von Militär, Carabineros und Polizei gegen die Demonstranten politisch verantwortlich ist. Nach Angaben des Nationalen Instituts für Menschenrechte wurden allein bis zum Abend des 25. Oktober fast 1 000 Menschen bei den Demonstrationen so schwer verletzt, dass sie in Krankenhäuser eingeliefert werden mussten. Über 3 000 weitere wurden festgenommen, die Zahl der Getöteten wurde mit mindestens 19 angegeben.

Die Menschen in Chile fühlen sich an die finstersten Zeiten der Diktatur erinnert – und das nicht zufällig. So verbreiteten sich in den „sozialen Netzwerken“ Fotos, die Chadwick Ende der 1970er Jahre an der Seite des Diktators Augusto Pinochet zeigen – und Jahrzehnte später in fast derselben Pose neben Präsident Piñera. Die Reaktion der Tausenden Demonstrantinnen und Demonstranten bewies Geschichtsbewusstsein. Auf den Kundgebungen war immer wieder der Slogan der Volksfront, „El pueblo unido jamás será vencido“ zu hören – das vereinte Volk wird niemals besiegt sein. Musiker stimmten Lieder des von den Putschisten 1973 ermordeten Volkssängers Victor Jara an und Tausende sangen mit ihnen „El derecho de vivir en paz“ – Das Recht, in Frieden zu leben. Das war eine direkte Antwort an den Staatschef, der sich zwischenzeitlich im „Krieg gegen einen mächtigen Feind“ gewähnt hatte.

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"Aufstand in Chile", UZ vom 1. November 2019



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