„Hunger in Waldenburg“
DVD-Edition, 228 Minuten
umfangreiches Bonusmaterial
Booklet als PDF, 14,90 Euro
Die Arte-DVD-Edition „Hunger in Waldenburg“, entstanden in Zusammenarbeit mit dem Filmmuseum Potsdam und nun im Vertrieb von Absolut Medien als DVD erhältlich, bietet mehr als nostalgische Erinnerung und Wiederentdeckung eines vergessenen Stummfilm-Klassikers.
Der titelgebende Film „Ums tägliche Brot – Hunger in Waldenburg“ von Phil Jutzi aus dem Wirtschaftskrisenjahr 1929, sorgfältig restauriert und mit neuer Musik unterlegt, ist mit 44 Minuten nur das halbdokumentarische Kernstück der Edition. Erst durch den Kontrast zum längsten Teil der DVD erhält sie ihren Informationswert und Reiz. Denn „Morgenröte – Das Drama des Stollen 305“ von Wolfgang Neff ist ein 99-minütiger Spielfilm aus dem gleichen Jahr, den man getrost als rechtskonservative Antwort auf Jutzis Film ansehen kann. Gemeinsam ist beiden Filmen die Grundthematik, nämlich die gesellschaftlichen Umbrüche durch die Wirtschaftskrise 1929, und die Gegend, in der ihre Geschichten angesiedelt sind: der von Textilindustrie und Bergbau geprägte Machtbereich des Fürstenhauses derer von Pless in und um die niederschlesische Stadt Waldenburg.
Die adligen Herrschaften selbst bleiben in beiden Filmen außen vor. In Jutzis Film sind sie nur präsent durch Bilder ihres prächtigen Schlosses, das hoch über der Landschaft thront, in „Morgenröte“ besorgt ein finsterer Aufsichtsrat ihre Geschäfte. In ihm stehen zynische Couponabschneider wie Bankier Schücking gegen aufrechte Unternehmer wie die Hauptfigur, von der ein Zwischentitel kundtut, Grubendirektor Bernhard Eggebrecht „trat von jeher für das Wohl der Arbeiter ein“. Außerdem plagt ihn, wie es sich für ein echtes Melodram gehört, eine Liebesaffäre. Wie schwer es Menschen wie er haben, zeigt der Film am Beispiel von Unternehmersohn Stephan Schwaiger, dessen Vater in einem „unglücklichen Prozess“ sein Vermögen verlor und der sich nun selbst auf der Grube Morgenröte verdingen muss.
Noch ärger ergeht es den Menschen in Jutzis Film, der ganz ohne Studios an Originalschauplätzen und mit Laiendarstellern entstand. Seine namenlose Hauptfigur ist ein junger Weber, den eine erneute Kürzung des Stücklohns dazu bringt, dem elterlichen Webstuhl und der täglichen Wassersuppe ade zu sagen und im Bergbau Arbeit zu suchen. Das misslingt zunächst, und nur das Eingreifen eines erfahreneren Leidensgenossen hindert ihn daran, seinen Hunger mit einem Mundraub zu stillen. Der verschafft ihm auch Unterkunft bei einer Witwe mit drei Töchern und führt ihn so auf den rechten Weg der proletarischen Solidarität. Als der Vermieter von der Frau die überfällige Miete einfordert und handgreiflich wird, kommt es zum tragischen Schluss, dem Jutzi und sein Autor Leo Lania noch ein galliges Schlussbild anfügen: höhnisch zählt der Vermieter seine Münzen.
Derlei proletarische Nöte sind den Figuren in „Morgenröte“ natürlich fremd, man kann sie allenfalls in kurzen Szenen aus den stummen Gesichtern einiger Kumpels herauslesen, die die Profitgier der Aktionäre nun auch noch in den einsturzgefährdeten Stollen 306 schicken will. Es rumort unter den Arbeitern, einzelne wollen protestieren – „ewig Unzufriedene“ nennt sie ein Zwischentitel. Der verarmte Unternehmersohn Schwaiger rät zu „Vernunft“ und Kompromiss, aber weder er noch der aufrechte Direktor Eggebrecht können die Katastrophe im Schacht verhindern. Schwaiger wird verschüttet, aber für Eggebrecht gibt es wenigstens privat ein Happyend – „Ihr tanzt, und unten rast der Tod“, sagt ein Zwischentitel treffend, aber mit dem Schwulst und im Blut-und-Boden-Jargon, der den ganzen Film durchzieht.
Den stärker werdenden Nazis jener Zeit dürfte Neffs melodramatische Seifenoper gefallen haben – Jutzis Filme verboten sie sofort nach ihrem Machtantritt, und den Volks-Film-Verband, der sie finanziert hatte, gleich mit. Der von Willi Münzenbergs Internationaler Arbeiterhilfe (IAH) unterstützte Verband hatte erfolgreich die „Russenfilme“ in Deutschland vermarktet und unter anderem Brechts und Dudows „Kuhle Wampe“ finanziert. Das große Potenzial, das in diesen Filmen agitatorisch, aber auch stilistisch und filmkünstlerisch steckte, ging dadurch abrupt verloren – ein kultureller Verlust, den der deutsche Film nie wieder wettmachen konnte. Seichte Sozialromantik à la Neff fand dagegen auch im deutschen Heimatfilm und US-Fernsehserien wie „Bonanza“ in der Nachkriegs-BRD mühelos ihre populären Nachfolger.
Als Bonusmaterial enthält die Edition die Tonversion von Jutzis Film aus dem DDR-Fernsehen (1975) und das begleitende „Post scriptum Vetschau 1975“, in dem eine Laiendarstellerin aus Jutzis Film von den Dreharbeiten und ihrem späteren Leben in der DDR erzählt. Irritierend „unfertig“ scheint Uwe Manns „Kohle als Honorar“ von 2016: Ein aus den ungeschnittenen Aufnahmen von illegalen „Kohlespechten“ im heutigen EU-Polen geplanter Film wurde abgebrochen – er hätte seine Protagonisten in den Knast gebracht. Das aber erfährt man nur im „booklet“, das leider nur als PDF-Datei mitgeliefert wird, doch auf seinen 72 Seiten spannende Hintergrundtexte und Dokumente bietet.