Als US-Verteidigungsminister Mark Esper im Februar seinen Auftritt bei der Münchner Sicherheitskonferenz hinlegte, ließ er wenig Zweifel aufkommen, wo das Pentagon derzeit seine Prioritäten und Gegner sieht: „Wir befinden uns nun in einer Epoche der Großmachtkonkurrenz“, stellte er nüchtern fest, um danach zu präzisieren, wer hier mit wem im Clinch liegt: „Unsere wichtigsten Herausforderer (sind) erst China und dann Russland.“
Weil das Militär auf mögliche Kriege mit diesen Großmächten vorbereitet sein will, wurde Russland dieses Jahr bereits mit dem Großmanöver „Defender Europe 2020“ bedacht, das coronabedingt allerdings nur in einer abgespeckten Variante über die Bühne gehen konnte. Im Herbst soll dann das gegen China gerichtete Pendant „Defender Pacific 2020“ stattfinden, mit dem die USA ihre Machtansprüche in Ostasien untermauern wollen. Derlei Großübungen und das damit einhergehende Säbelrasseln, das dazu beiträgt, aus der vielbeschworenen Großmachtkonkurrenz eine selbsterfüllende Prophezeiung zu machen, sollen künftig zur Normalität gehören. Nach gegenwärtigen Planungen sollen Defender Europe und Defender Pacific künftig jährlich abgehalten werden.
Verschärfte Großmachtkonkurrenz
Ganz neu ist Washingtons jüngste China-Obsession nicht: Sie nahm spätestens mit dem Artikel „America‘s Pacific Century“ ihren Lauf, den die damalige Außenministerin Hillary Clinton überaus öffentlichkeitswirksam im Oktober 2011 in „Foreign Policy“ veröffentlicht hatte. Erste Schritte wurden bereits im selben Jahr eingeleitet, darunter die Ankündigung, vier zusätzliche Kriegsschiffe dauerhaft nach Singapur verlegen, den Militärstützpunkt auf Guam für einen zweistelligen Milliardenbetrag ausbauen und im australischen Darwin 2.500 Soldaten sowie B-52-Langstreckenbomber stationieren zu wollen. Vor allem aber wurde angekündigt, das bisherige Truppenverhältnis Atlantik-Pazifik von 50:50 perspektivisch auf 40:60 Richtung Ostasien verschieben zu wollen. Im Januar 2012 wurde dann das Dokument „Sustaining U. S. Global Leadership: Priorities for 21st Century Defense“ veröffentlicht, mit dem die Regierung von Barack Obama auch offiziell die militärische Schwerpunktverlagerung nach Asien einleitete. Darin hieß es kurz und knapp: „Wir werden uns aus purer Notwendigkeit auf die asiatisch-pazifische Region ausrichten.“
Auch wenn es sich bereits hier um eine deutliche Akzentverschiebung handelte, ging Obamas Nachfolger Donald Trump noch einmal auf eine ganz andere Art in die Offensive, indem die Vorbereitung auf militärische Auseinandersetzungen mit China und Russland ins Zentrum der Pentagon-Strategie gerückt wurde. Dies nahm seinen Anfang mit der Ende 2017 veröffentlichten Nationalen Sicherheitsstrategie (NSS), in der es hieß: „China und Russland fordern Amerikas Macht, seinen Einfluss und seine Interessen heraus und versuchen Amerikas Sicherheit und Wohlstand zu untergraben. (…)Unsere Aufgabe ist es, sicherzustellen, dass die militärische Überlegenheit der USA weiterbesteht. (…) Wir werden den Frieden durch Stärke wahren, indem wir unser Militär neu aufstellen, damit es vorherrschend bleibt, unsere Feinde abschreckt und, sofern erforderlich, in der Lage ist, zu kämpfen und zu siegen.“
Daran knüpften dann die im Folgejahr veröffentlichte Nationale Militärstrategie (NMS) und die Nationale Verteidigungsstrategie (NVS) an. In der NVS klang dies zum Beispiel dann so: „Der langfristige strategische Konkurrenzkampf mit China und Russland ist die wichtigste Priorität für das Verteidigungsministerium, was sowohl höhere als auch nachhaltigere Investitionen erfordert.“
Konkret mit Bezug auf China heißt es dann in der Verteidigungsstrategie weiter: „China nutzt militärische Modernisierungsprogramme, verdeckte Beeinflussungsoperationen und räuberische Wirtschaftspraktiken, um seine Nachbarn dazu zu zwingen, die indo-pazifische Region zu seinen Gunsten neu zu gestalten. Während sich Chinas wirtschaftlicher und militärischer Aufstieg durch die Anwendung von Macht im Rahmen einer langfristigen gesamtstaatlichen Strategie fortsetzt, wird es mit seinem militärischen Modernisierungsprogramm fortfahren, das darauf abzielt, kurzfristig die regionale Vorherrschaft und die Verdrängung der Vereinigten Staaten im Indo-Pazifik zu erreichen, um langfristig die globale Vorherrschaft zu erringen.“
In gewisser Weise ist das ein alter Hut, schon die „Defense Planning Guidance“ Anfang der 1990er enthielt ähnliche Forderungen nach der „Verteidigung“ der US-Hegemonie. Damals hieß es in der Pentagon-Richtlinie: „Unser erstes Ziel ist, den (Wieder-)Aufstieg eines neuen Rivalen zu verhüten, sei es auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion oder anderswo, der eine Bedrohung der Größenordnung darstellt wie früher die Sowjetunion. Das ist eine beherrschende Überlegung, die der neuen Verteidigungsstrategie für die Region zugrunde liegt. Dies erfordert, dass wir versuchen müssen zu verhüten, dass irgendeine feindliche Macht eine Region dominiert, deren Ressourcen – unter gefestigter Kontrolle – ausreichen würden, eine Weltmachtposition zu schaffen. Zu diesen Regionen gehören Westeuropa, Ostasien, die Gebiete der ehemaligen Sowjetunion und Südwestasien.“
Von da ab bestimmte das Ziel, die US-Vormachtstellung um jeden Preis zu erhalten, die Politik jeder folgenden US-Regierung, egal ob der unter Clinton, Bush II oder Obama, und selbstredend auch der von Trump. Dass China dabei in den letzten Jahren immer größere Aufmerksamkeit erfährt, ist in sich nachvollziehbar: Sein spektakulärer machtpolitischer Aufstieg macht das Land zu genau dem Rivalen, den die USA seit Anfang der 1990er niederhalten wollen – und die indopazifische Region droht dabei aus Sicht der USA zum Sprungbrett zu werden, über das sie vom machtpolitischen Thron gestoßen werden könnten.
Defender Pacific: Aufmarsch in Ostasien
Auf der Nationalen Verteidigungsstrategie bauen dann wiederum spezielle Strategien für die Teilstreitkräfte auf. So buchstabiert das am 27. März 2020 veröffentlichte Papier „Force Design 2030“ die Vorgaben der NVS für die Marine durch: Konsequent soll die Truppe auf den Indopazifik und auf China ausgerichtet werden. Ergänzt wird dies mit Regionalstrategien, in diesem Fall ist das vor allem der „Indo-Pacific Strategy Report“ des Pentagon vom 1. Juni 2019, in dem unter anderem die Bedeutung verstärkter Manövertätigkeiten hervorgehoben wird. Explizit erwähnt werden dabei einmal die sogenannten Manöver zur Freiheit der Schifffahrt („Freedom of Navigation Operations“, FONOP), bei denen es den USA um die Offenhaltung – oder, je nach Sichtweise: die Kontrolle – der neuralgischen Seewege in der Region geht. Und zum anderen geht der Bericht auf die sogenannten „Expeditionary Advance Base Operations“ (EABO) ein, in deren Rahmen unter anderem die Einnahme kleiner Inseln mitsamt anschließender Errichtung von Brückenköpfen geprobt wird. Diese Übungen stehen in einem offensichtlichen Zusammenhang mit den US-Vorwürfen, China errichte im Südchinesischen Meer auf künstlichen Inseln und Riffen Militärbasen, um seine Machtposition auszubauen.
Das Manöver Defender Pacific 2020 setzt bei diesem gefährlichen machtpolitischen Fingerhakeln geographisch noch einmal deutlich weiter vorne an – es hat seinen Ausgangspunkt zunächst einmal in den USA. Dabei wurde schon der mit Defender Europe 2020 geplante Großaufmarsch an der russischen Grenze explizit als Umsetzung der in der Nationalen Verteidigungsstrategie gemachten Vorgaben gerechtfertigt (siehe UZ vom 14. 2.). Dies gilt auch für das asiatische Pendant, über das „defensenews“ bereits im vergangenen Jahr schrieb: „Die Übung wird von einem aufsteigenden China befeuert, das in der Nationalen Verteidigungsstrategie als langfristiger strategischer Konkurrent der Vereinigten Staaten beschrieben wird.“
Laut Aussagen von John Johnson, Kommandeur der US Army Pacific, geht es bei der größten Übung der US-Armee in der Region seit Anfang der 1990er konkret darum, ab September 2020 innerhalb von 30 bis 45 Tagen 12.000 Soldaten von den USA nach Ostasien zu verlegen. Was das Szenario anbelangt, gab Johnsons Vorgänger, Robert Brown, kurz vor seiner Verrentung an: „Sie (die US-Truppen) werden vor die Herausforderung gestellt, zum Pazifik zu gelangen, wo die dem Pazifik zugeordneten Einheiten bereits stationiert sind. Und wir werden nicht nach Korea gehen, wir werden tatsächlich in ein Szenario im Südchinesischen Meer gehen, in dem wir uns in der Gegend um das Südchinesische Meer befinden werden.“
Logistisch ist das eine noch einmal eine ganze Ecke größere Herausforderung als beim EU-Gegenüber: So ist die zu überbrückende Distanz deutlich größer und es gibt auch kein Festland, von wo aus sich die Truppen zur schnellen Durchreise bis zur Feindesgrenze aufmachen könnten. Auch US-General Gus Perna wurde dazu im Februar 2020 mit den Worten zitiert: „Defender Pacific wird allein schon aufgrund der unterschiedlichen Zeiträume und Distanzen wie auch dem Terrain zusätzliche Herausforderungen beinhalten. Wir müssen Truppen und Material sehr viel weiter als auf dem europäischen Schauplatz transportieren, was bedeutet, dass es länger dauern wird, dorthin zu gelangen.“
Aktuell ist noch unklar, ob die Übung aufgrund der Coronakrise wie geplant abgehalten werden kann – klar ist aber, dass das alles auf Dauer angelegt ist.
Nach Defender ist vor Defender
Die USA haben bereits etwa 85.000 Soldaten in der Region stationiert, der Großteil davon in Japan und Südkorea – ein Manöver aus dem potenziellen Bedarf nach zusätzlichen Truppen heraus zu begründen zeigt, in welchen Größenordnungen das Pentagon hier denkt. Und dabei handelt es sich hier erst einmal „nur“ um die kleinere Variante, das dickere Ende soll erst im nächsten Jahr kommen.
Denn die Defender-Übungen sollen künftig sowohl in Europa als auch in Asien jährlich stattfinden, allerdings jeweils auf dem einen Kontinent in einer großen und beim Pendant in einer abgespeckten Version. Dieses Jahr war Europa mit der Großvariante an der Reihe, wofür im Haushalt 340 Millionen Dollar eingestellt worden waren. Wie hoch die Ausgaben für die diesjährige Pacific-Übung sein werden, ist nicht ganz klar, sie dürften aber bei ungefähr 150 Millionen Dollar liegen. Das ist nämlich der Betrag, der 2021 für Defender Europe im Pentagon-Haushalt eingestellt ist. Dafür wird das Pazifik-Pendant dann deutlich größer ausfallen: Vorgesehen sind für 2021 satte 364 Millionen Dollar und die Rede ist dann von 30.000 beteiligten US-Soldaten.
Deutsche Rolle?
Vor diesem Hintergrund stellt sich abschließend die Frage, ob auch die NATO oder gar Deutschland bei Defender Pacific eine Rolle spielen werden. Für das anstehende Manöver ist diesbezüglich wohl noch nichts geplant, allerdings ist das womöglich nur noch eine Frage der Zeit. Denn schon jetzt hat nicht zuletzt Deutschland sein machtpolitisches Auge auf die indopazifische Region geworfen. So begründete Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer in einer Rede bei der Deutschen Maritimen Akademie am 12. März 2020 die kurz zuvor verkündete Entscheidung, ein Kriegsschiff in die Region entsenden zu wollen, mit den Worten: „Die Aufgaben unserer Marine gehen über die Landes- und Bündnisverteidigung hinaus. Denn Seewege sind Lebensadern. Und so ist die Freiheit der Seewege für Deutschland und unseren Wohlstand von großer strategischer Bedeutung. (…) Es wird deutlich: Wir haben ein vitales Interesse an verlässlichen Regeln, an der liberalen internationalen Ordnung. Und die wird auch zu Wasser verteidigt. Viel genutzte strategische Engpässe, wie die Straßen von Hormus und Malakka, sind besonders bedeutsam und in hohem Maße von Regionalkonflikten bedroht, aber auch von Terrorismus und Piraterie. (…) In der zweiten Jahreshälfte, während Deutschlands EU-Ratspräsidentschaft, wollen wir außerdem eine Fregatte in den Indischen Ozean entsenden. Als wichtiges Zeichen: Auch in diesem Teil der Welt haben wir Interessen, auch dort setzen wir uns für internationales Recht ein, auch dort stehen wir unseren Partnern zur Seite.“
Jürgen Wagner ist Vorstandsmitglied der Informationsstelle Militarisierung (IMI)