Die türkische Wirtschaft rutscht unter Präsident Recep Tayyip Erdogan immer tiefer in die Krise, die Währung verzeichnet deutliche Verluste, die Preise auf den Märkten steigen, die Zahl der Armen im Land wird immer größer. Der Autokrat in Ankara begegnet dem wie gehabt mit außenpolitischer Aggression, innenpolitisch wird die nationalistische Karte ausgespielt. Am Dienstag vergangener Woche präsentierte Erdogan ein auf zehn Jahre angelegtes Raumfahrtprogramm. Das Land werde in eine höhere Liga im globalen Weltraum-Wettrennen aufsteigen, schwärmte der Staatschef, schon 2023 soll es mit Hilfe „internationaler Kooperation“ eine erste türkische Mondmission geben. Die Bevölkerung ist nun aufgerufen, ein eigenes türkisches Wort für Astronaut zu finden.
Nur einen Tag nach Erdogans Griff nach den Sternen hat die türkische Armee ganz irdisch eine Invasion in den Norden des Nachbarlands Irak gestartet. Ausgegebenes Ziel: In der Region Gare in der Provinz Dohuk sollen mit der „Operation Adlerkralle 2“ benannten Aggression des NATO-Mitglieds Türkei unter anderem Stellungen der kurdischen Arbeiterpartei PKK zerstört werden. Und das offensichtlich ohne Rücksicht auf Verluste, auch eigene. Die türkische Armee selbst sprach am vergangenen Sonntag von „schweren Kämpfen“ mit Einheiten der PKK-Guerilla HPG, die in der Bergregion offensichtlich effiziente Widerstandsstrukturen aufgebaut hatten und eine dauerhafte Festsetzung der türkischen Invasoren bis dato vereiteln konnten.
Die türkische Führung beruft sich bei ihrem Vorgehen auf das Recht auf Selbstverteidigung. Tatsächlich ist der Einsatz türkischer Bodentruppen und der Luftwaffe 70 Kilometer von der eigenen Grenze entfernt ein Angriff auf die territoriale Integrität und Souveränität des Irak, auch wenn er lokal von der PDK-Regionalregierung der Barzani-Familie gedeckt war. Die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages haben vorausgegangene Angriffe Erdogans auf den Irak mit den Offensiven „Adlerkralle“ und „Tigerkralle“ im Juli 2020 als mit dem Völkerrecht nicht vereinbar bewertet.
Die Türkei muss das nicht weiter kümmern. Konsequenzen hat Erdogan für den neuerlichen Rechtsbruch nicht zu erwarten. Weder die Bundesregierung noch die anderen NATO-Verbündeten haben Erdogans Militärvorstöße im Irak oder – an der Seite islamistischer Terrorgruppen – im Norden Syriens je verurteilt und sanktioniert. Erst am 2. Februar hat die deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) ein Treffen mit ihrem türkischen Amtskollegen Hulusi Akar in Berlin als „besonderes und gutes Signal unter Verbündeten“ gewertet und gegenüber dem notorischen Rechtsbrecher bekräftigt. „Die Türkei ist und bleibt ein wichtiger NATO-Partner“. Den „Dialog“ zwischen den beiden NATO-Partnern Deutschland und Türkei nannte Kramp-Karrenbauer „essenziell für das Bündnis“. Beide hätten ein gemeinsames Interesse an einer stabilen Südostflanke der Allianz. Am 8. Februar konferierte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) mit dem türkischen Präsidenten Erdogan. Auch hier nur freundliche Worte und eine Bekräftigung, welch hohe Bedeutung stabile und konstruktive Beziehungen zwischen der Europäischen Union und der Türkei hätten.
Die Fraktion der Linkspartei im Bundestag verlangt nun Aufklärung darüber, ob Kramp-Karrenbauer und Merkel etwa von den Angriffsplänen des NATO-Partners vorab informiert wurden. Die von der Bundesregierung nach den Begegnungen euphorisch begrüßte Annäherung dürfte von Erdogan jedenfalls „als Ermutigung zum weiteren Zündeln in der Region gewertet werden“, erklärte Sevim Dagdelen, Obfrau der Fraktion im Auswärtigen Ausschuss, die zudem auf eine Verurteilung der türkischen Militäroffensive durch die Bundesregierung wie auch in der EU und in der NATO drängte.
Unabhängig untersucht werden muss ein mögliches Kriegsverbrechen im Rahmen der Operation „Adlerkralle 2“: Wie der türkische Verteidigungsminister Akar am Sonntag bekannt gab, sei ein Ziel der Offensive gewesen, das Schicksal verschleppter türkischer Staatsangehöriger aufzuklären. Man habe in einer Höhle in der umkämpften Region Gare die Leichen von 13 Bürgern gefunden, die vor sechs Jahren von der PKK entführt worden seien. Eine Autopsie habe ergeben, dass zwölf der Toten mit Kopfschüssen exekutiert worden seien, so Akar. Ein weiterer sei in die Brust getroffen worden.
Das Hauptquartier der kurdischen Volksverteidigungseinheiten HPG weist die Anschuldigungen scharf zurück und spricht von „Lügen und verdrehten Tatsachen“. Gefangene türkische Soldaten, Polizisten und Mitarbeiter des türkischen Geheimdienstes MIT seien infolge dreitägiger schwerer Bombardierungen durch die türkische Luftwaffe und der Gefechte um das Gefangenenlager getötet worden. Man habe alles zu deren Schutz unternommen, angesichts der Schwere der Angriffe habe aber niemand das Lager lebend verlassen können. „Der Angriff war nicht auf die Befreiung der Kriegsgefangenen ausgerichtet, sondern auf ihre Vernichtung und die Zerstörung des Lagers“, heißt es in einer am Sonntag verbreiteten Erklärung der HPG. „Haupt- und Alleinverantwortlicher für die Ermordung dieser Menschen“ sei Hulusi Akar, der türkische Verteidigungsminister.
Die sich widersprechenden Darstellungen müssen dringend durch eine internationale Untersuchungskommission aufgeklärt werden. Erdogan sind die getöteten Soldaten, Polizisten und Geheimdienstmitarbeiter Vorwand für noch härteres Vorgehen. Sein Sprecher nennt die 13 Toten ausnahmslos Zivilisten und wirft anderen Ländern vor, zu den Angriffen der PKK zu schweigen. Der Kampf werde weitergehen. Erdogans Kommunikationsdirektor drohte auf Twitter: „Unsere Rache wird schmerzhaft sein.“ Bei Massenrazzien am Wochenende wurden in der Türkei bereits mindestens 150 Mitglieder der linken HDP festgenommen. Die faschistische MHP, die Erdogans islamistische AKP-Regierung stützt, fordert das Verbot der prokurdischen Partei, da diese als „parlamentarischer Arm der Terroristen“ fungiere. Die Zerstörung der unliebsamen Opposition ist ein realistischeres Szenario als Erdogans Flug zum Mond.