Anja Reumschüssels Jugendbuch „Über den Dächern von Jerusalem“

Aufklärung mit Auslassungen

Bürgerliche Kinderbücher haben grundsätzlich einen Haken: Die Frage, wie viel man Kindern „zumuten“ kann. Soll sich das Buch mit einem „schweren“ Thema beschäftigen, dann scheitert es oft daran. Die Informationen, die zur Einordnung eines Themas notwendig sind, werden den jungen Leserinnen und Lesern vorenthalten, anstatt sie so zu erzählen, dass Kinder damit umgehen können.

„Über den Dächern von Jerusalem“ von Anja Reumschüssel hat sich – wie der Titel verrät – eines solchen Themas angenommen. Roman und Autorin scheitern nicht daran, dass sie Kinder für zu zartbesaitet halten, sondern, so scheint es, an den deutschen Gepflogenheiten.

Tessa kommt 1947 als junge Holocaust-Überlebende nach Palästina. Sie will ihren Vater finden und dabei helfen, einen jüdischen Staat aufzubauen. Einen Ort, an dem sie endlich sicher sein kann. Jüdischer Terror erschüttert das britisch kontrollierte Palästina, die Anschläge auf britische Soldaten wie auf die palästinensische Zivilbevölkerung häufen sich. Hat Tessas Vater etwas mit den Anschlägen zu tun? Von ihrem Vater und seinen Zionistenfreunden davon überzeugt, dass die arabische Bevölkerung ihr als Jüdin nach dem Leben trachtet, lernt sie eines Abends einen palästinensischen Jungen kennen. Mos Vater ist beim Anschlag auf das King-David-Hotel ums Leben gekommen. Bald müssen er und seinen Familie aus der Jerusalemer Altstadt fliehen.

2023 wird die junge Israeli Anat, die ihren Militärdienst mehr als widerwillig absolviert, weil sie lieber Ärztin werden will, von ihren Armeekameraden allein auf palästinensischem Gebiet zurückgelassen. Sie fürchtet die Rache der Palästinenser, sollte sie so allein und in Uniform aufgegriffen werden. Doch dann trifft sie den jungen Karim aus dem Flüchtlingslager Aida in Bethlehem, der nicht versucht, sie umzubringen, sondern es schafft, sie nach Ramallah zu bringen. Mit ihm, der nicht nur schnell mit der Schleuder, sondern auch im Denken ist, entwickelt sich eine außergewöhnliche Freundschaft.

Die ersten Kapitel von Reumschüssels Roman wirken teilweise befremdlich. Zu harmlos wirkt die Darstellung der Situation im durch Israel besetzten Palästina. Karim und seine Jungs gehen Steine schmeißen, weil nachts israelische Soldaten das Haus eines Kumpels durchsucht haben und dessen kleine Schwester Angst bekam. Nur zögerlich scheint sich die Autorin der Gewalt zu nähern, der Palästinenserinnen und Palästinenser tagtäglich ausgesetzt sind. Angesichts der über 29.000 Toten in Gaza scheint eine Hausdurchsuchung als Anlass des Zorns mehr als verharmlosend. Und auch ohne den Krieg gegen Gaza – das Leben auf der Westbank hält mehr Gründe für Zorn bereit.

Doch scheint Reumschüssel nicht auf die Haltung zu verfallen, man könne Kindern nichts „zumuten“. Je länger man liest, desto mehr hat man den Eindruck, einige Dinge hat sich die Autorin, die längere Zeit in Palästina gelebt hat, nicht getraut, während sie andere Ängste abgeschüttelt hat. Reumschüssel verlangt ihren jungen Lesern durchaus ab, sich mit der Gewalt in der Welt auseinanderzusetzen. Weder wird der Tod von Tessas Mutter und Bruder im Konzentrationslager Bergen-Belsen geschönt, noch die Angst Mos, als er vom Anschlag auf das King-David-Hotel hört, in dem sein Vater gearbeitet hat.

1947/48 sitzen Tessa und Mo auf einem Dach in der Jerusalemer Altstadt und streiten leidenschaftlich über die Frage, ob und wo ein jüdischer Staat entstehen soll. Junge Leserinnen und Leser erfahren viel über das britische Mandat für Palästina, wenn Anat und Karim sich streiten, viel über den Sechstagekrieg, die Grenzen, in denen Palästina existieren sollte, die Besatzung durch Israel und die Siedlungspolitik. Das macht es spannend und lesenswert, ermuntert, Einzelheiten nachzuschlagen wie zum Beispiel den McMahon-Hussein-Briefwechsel oder das Sykes-Picot-Abkommen. Fast schon wäre man geneigt, ihr den holperigen Anfang des Buches zu verzeihen und den dummen Ausspruch eines der Protagonisten, dass die Atombombe den zweiten Weltkrieg beendet habe. Doch leider schleicht sie um ein Thema, ohne es korrekt zu benennen: Den Zionismus.

Hier scheint sie zu scheitern an den deutschen Gepflogenheiten, die man heute Staatsräson nennt, obwohl sie nur so vor Unvernunft trieft. Obwohl sowohl Mo als auch Karim mehrmals betonen, dass die Geschichte vom „Land ohne Volk“ erlogen ist und Reumschüssel durchaus thematisiert, wie problematisch die Haltung zur jüdischen Besiedlung Palästinas ist– ohne eine Definition des Zionismus ist der Konflikt nicht zu verstehen. Besonders auffällig wird dies, wenn die Autorin Anat nachdenken lässt über die verschiedenen Wünsche für die Zukunft Israels: einige wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, vielleicht noch mit Jerusalem als Hauptstadt, andere hoffen auf Ruhe, wenn die Palästinenser endlich einen eigenen Staat haben, besonders Religiöse wollen das Ende Palästinas und ein Groß-Israel und die Orthodoxen wollen kein Israel, da nur Gott den jüdischen Staat gründen kann. Ohne eine Erklärung des Zionismus bleibt es bei einer unübersichtlichen Aufzählung.

Am Schluss bleibt ein weiterer Klassiker der bürgerlichen Kinderliteratur: Wenn sich doch alle ein bisschen anfreunden würden, so wie Tessa und Mo, wie Anat und Karim, dann könnte doch irgendwann endlich Frieden herrschen. Ein naiver Wunsch.

Trotz aller Kritik: Mit der deutlichen Darstellung der Positionen der Palästinenser ist Anja Reumschüssels „Über den Dächern von Jerusalem“ das beste Kinderbuch zum Nahost-Konflikt, das derzeit in den deutschen Buchhandlungen zu finden ist.

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"Aufklärung mit Auslassungen", UZ vom 23. Februar 2024



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