Es gibt ein paar Grundregeln, die gelten im Kindergarten ganz genauso wie in der großen internationalen Politik. Eine davon lautet: Wenn du dich streitest und nicht gewinnst oder gar verlierst, fang an, laut zu heulen, und beschuldige deine Spielkameradin – in der Politik: deinen Gegner –, dich richtig fies gehauen zu haben. Dann halt kurz inne und schau dich um, ob jemand darauf anspringt. Wenn ja, dann hast du womöglich gewonnen.
Beobachten kann man das Muster aktuell in Moldawien und in Georgien. In beiden Ländern haben die prowestlichen Kräfte entweder nicht wirklich gewonnen – so in Moldawien – oder gar verloren – so in Georgien. In beiden Ländern heulen sie deshalb laut auf und behaupten, ihre Gegner – prorussische Kräfte, natürlich auch Russland selbst – hätten mit unlauteren Methoden gekämpft. Sie hätten Druck ausgeübt, Stimmen gekauft und das Resultat gefälscht – und Moskau habe sich zudem in ihre inneren Angelegenheiten eingemischt. Na klar, das mag sein, auch wenn es natürlich noch bewiesen werden müsste. Nur: Wer mit Steinen wirft, sollte sicher sein, dass er nicht im Glashaus sitzt.
Genau das tun aber Moldawien und Georgien. Beispiel Moldawien: Am 10. Oktober, zehn Tage vor der Präsidentenwahl, stellt EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in der Hauptstadt Chișinău einen „Wachstumsplan für Moldawien“ vor. Es soll 1,8 Milliarden Euro aus Brüssel für das Land geben; die EU will Schulen renovieren, Krankenhäuser und Brücken bauen. Die einzige Voraussetzung: Chișinău muss an seinem Pro-EU-Kurs festhalten. Von der Leyen preist Präsidentin Maia Sandu nun also dafür, „wie verpflichtet sie dem europäischen Weg ist“. Deren Parteigänger jubeln. Oder, am 18. Oktober: Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock warnt, „Putins Russland“ greife bei den Wahlen „mit gezielter Einflussnahme“ ein; dabei liege Moldawiens Zukunft doch nicht in Russland, sondern „im Herzen Europas“. Wer könnte in derlei Bekenntnissen zwei Tage vor den Wahlen schon westliche Einflussnahme vermuten? Na also.
Nebenbei: Dass Sandu im ersten Wahlgang immerhin 42 Prozent erhalten und das parallele Referendum über die Aufnahme des EU-Beitrittsziels in die Verfassung knapp gewonnen hat, verdankt sie der moldawischen Diaspora im Westen. Die konnte etwa in sieben Wahllokalen in Kanada, in 16 in den USA und in 60 in Italien abstimmen. Die moldawische Diaspora in Russland hingegen hatte lediglich zwei Wahllokale zur Verfügung, beide in Moskau. Und um sicherzugehen, waren dort nur je 5.000 Wahlzettel zur Verfügung. Wahlmanipulation? Aber bitte!
Und Georgien? 2. Oktober, immerhin noch 24 Tage vor der Parlamentswahl: Von der Leyen empfängt Salome Surabischwili in Brüssel. Georgiens Präsidentin hat sich offen auf die Seite der oppositionellen Pro-EU-Kräfte geschlagen. „Unser Treffen kommt zu einem wichtigen Zeitpunkt“, twittert von der Leyen: „Die kommende Wahl wird ein entscheidender Test für Georgiens Demokratie sein.“ Und damit auch wirklich alle verstehen, für wen sie eintritt, hält sie fest: „Ich habe großen Respekt für Ihre Verpflichtung auf Georgiens europäischen Weg.“ Das ist nicht neu. Die EU ergreift seit Jahren bei inneren Streitigkeiten in Tiflis immer wieder offen Partei für die georgische Opposition. 10. Oktober, gut zwei Wochen vor der Wahl: Baerbock und ihre Amtskollegen aus Frankreich und Polen üben öffentlich scharfe Kritik an der georgischen Regierung. Nebenbei: Präsidentin Surabischwili, geboren 1952 in Paris, amtierte als Frankreichs Botschafterin in Tiflis, als Ende 2003 prowestliche Kräfte Georgiens Regierung gewaltsam stürzten. Im März 2004 wechselte sie in das Amt der Außenministerin der prowestlichen Umsturzregierung. Äußere Einmischung? I wo denn – nichts läge dem Westen ferner.
Was ist nun mit dem Geschrei über angebliche oder auch tatsächliche russische Einmischung in Moldawien und Georgien? Nun – ginge es tatsächlich um Einmischung, der Westen müsste sich selbst attackieren. Es geht aber nur darum, den Gegner anzugreifen – nicht anders als damals im Kindergarten. Mit dem Unterschied, dass derlei Taktiken in der internationalen Politik gravierende, zuweilen sogar blutige Folgen haben können. Man kann Moldawien und Georgien nur wünschen, dass der Westen es dort nicht zum Äußersten treibt.