Weg mit dem Stickstoffwahnsinn!“ forderten die zahlreichen Landwirte, die am Montagnachmittag mit ihren Traktoren in die Innenstadt von Enschede rollten. Seit Wochen vergeht kaum ein Tag, an dem nicht irgendwo in den Niederlanden die Landwirte ihrer Wut auf die Regierung in Den Haag Luft machen. Brennende Strohballen gehören inzwischen zum Alltag auf niederländischen Autobahnen. Sie sind das Menetekel für eine Stimmung im Land, die sich immer mehr aufheizt.
Mit ihrer Guerillataktik tauchen sie mal hier, mal dort auf. Am vergangenen Wochenende behinderten laut dem friesischen Regionalsender „Omroep Fryslân“ absichtlich langsam fahrende Pkw den Verkehr auf mehreren Autobahnen im Norden des Landes. Ob es sich dabei um Bauern oder sympathisierende Bürger und Bürgerinnen handelte, war unklar.
Die Polizei reagiert zunehmend hilflos und gereizt – am 5. Juli schoss ein Beamter bei einer Demo im friesischen Heerenveen mit scharfer Munition auf einen Traktor. Der Schuss verfehlte den erst 16 Jahre alten Fahrer und Bauernsohn Jouke Hospes nur knapp. Er habe sich bedroht gefühlt, verteidigte die Polizeiführung ihren Kollegen. Ein im Internet hochgeladenes Video zeigte aber, dass dazu kein Grund bestand. Das sieht die Polizei inzwischen auch so. Seit dem Zwischenfall in Heerenveen ist das Verhältnis zwischen Landwirten und Polizei endgültig zerrüttet. Die Nerven liegen blank. Der Schütze sei aus Sicherheitsgründen vorübergehend an einem unbekannten Ort untergetaucht, berichtete die Lokalzeitung „Leeuwarder Courant“.
Die Bürgerinnen und Bürger bekommen die Folgen des Bauernprotests direkt zu spüren. Milch, Käse, Obst, Gemüse – bei allem, was frisch angeliefert wird, stehen die Kundinnen und Kunden nun häufiger vor leeren Regalen, weil die Landwirte mit Traktoren immer wieder die Lebensmittellager der großen Supermarktketten blockieren.
Die Niederlande produzieren pro Hektar den meisten Stickstoff aller EU-Staaten:46 Kilo. Das ist viermal so viel wie der europäische Schnitt. Hauptverursacher ist mit großem Abstand die Landwirtschaft. Genauer gesagt, vor allem die Viehwirtschaft, die in den Niederlanden deutlich intensiver betrieben wird als anderswo. In Bezug auf einzelne Unternehmen ist jedoch der indische Stahlgigant Tata Steel in IJmuiden in Sachen Stickstoff mit Abstand die größte Dreckschleuder, gefolgt vom internationalen Flughafen Schiphol in Amsterdam.
Seit vielen Jahren missachten die Niederlande die von der EU vorgegebenen Grenzwerte. 2019 entschied ein niederländisches Gericht: Schluss damit, der Ausstoß muss insgesamt deutlich verringert werden. Bis dahin müssen alle anderen Projekte, die Stickstoff erzeugen, auf Eis gelegt werden, so das Urteil. Zum Beispiel auch der Wohnungsbau, den die Niederlande dringend forcieren müssten, um die schlimme Wohnungsnot wenigstens einigermaßen in den Griff zu kriegen.
Um den Vorgaben des Gerichts nachzukommen, will die Regierung nun die Landwirtschaft zwingen, den Milchviehbestand deutlich herunterzufahren. Die Versorgung der Bevölkerung wäre dann immer noch gewährleistet, sagen Expertinnen und Experten, denn ein großer Teil der Erzeugnisse geht ins Ausland.
Für viele Landwirte würde eine Reduzierung das Aus bedeuten. Sie beziehen teilweise 60 Prozent ihres Einkommens aus dem Verkauf von Fleisch. Die Regierung selbst gesteht ein, dass jeder dritte Betrieb nicht überleben wird. Die Bäuerinnen und Bauern fürchten also zu Recht um ihre Existenz. Die Regierung und besonders der rechtsliberale Ministerpräsident Mark Rutte haben der Angst bis jetzt zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt.
Lilian Marijnissen, die Fraktionsvorsitzende der oppositionellen Sozialistischen Partei (SP), sagte bereits im Juni in der öffentlich-rechtlichen TV-Sendung „Goedemorgen Nederland“, die Bauern seien „das Opfer des politischen Versagens“ der Regierung. Jahrelang hätte Den Haag die Landwirte angestachelt, mehr zu produzieren. Nun habe sie ein Problem, den Landwirten den neuen Kurs zu vermitteln. Notfalls müssten die betroffenen Landwirte entschädigt werden, schlägt sie als einzige Lösung vor.
Weil die Regierung außerdem paralysiert scheint, biedern sich jetzt Politiker wie Thierry Baudet, der Vorsitzende der rechtsextremen Partei „Forum voor Democratie“, als Anwalt der Landwirte an. Zur Kundgebung am Montag in Enschede hatte der Ortsverband der PVV des Rechtspopulisten Geert Wilders aufgerufen. Wilders, Baudet und Caroline van der Plas, die Chefin und einzige Abgeordnete der Bauern-BürgerBewegung (BBB) im niederländischen Parlament, gehören zu den wenigen Politikern, die sich noch bei den Landwirten blicken lassen können.
Eine treibende Kraft hinter dem Bauernprotest ist die militante „Farmers Defence Force“, die ebenfalls in Teilen als stark rechtslastig gelten kann. Ihr Vorsitzender Mark van den Oever vergleicht die Behandlung der Bauern durch die Regierung mit der Judenverfolgung der Nationalsozialisten. Viele Niederländer finden solche Aussagen falsch und ungehörig. „Das ist ein Moorbrand in unser Gesellschaft“, befürchtete unlängst der Vorsitzende der Polizeigewerkschaft „Politiebond“, Jan Struijs.