Prof. Ingeborg Rapoport macht noch mit 102 Jahren politische und wissenschaftliche Furore

Aufgearbeitete Vergangenheit, bewahrte Zukunft

Von Hilmar Franz

Was ihr 1938 als „Halbjüdin“ an der Universität Hamburg verweigert worden war, erkämpfte sich im Mai 2015 die 102 Jahre alte Spitzenmedizinerin Ingeborg Rapoport in einem frei geführten Prüfungsgespräch vor drei Hamburger Professoren: den „Dr. med.“. 77 Jahre nach der Anfertigung und Ablehnung ihrer Dissertationsschrift legte die hellwache Wissenschaftlerin trotz stark eingeschränkten Sehvermögens eine Leistung hin, die mit der Gesamtnote „magna cum laude“ bewertet wurde.

Die nachträgliche wissenschaftliche Aussprache wurde aufgrund eines Dokuments vom 30.8.1938 möglich. Darin bescheinigte der damalige Direktor der Hamburger Universitätskinderklinik Prof. Degkwitz, er habe die Dissertationsschrift der damals 26-jährigen Ingeborg Syllm lediglich aufgrund der Nazi-Gesetzgebung nicht als Doktorarbeit annehmen können. Als sie kurz darauf in die USA floh, war es somit um qualifiziert bezahlte Anstellungen zunächst in New York City und in Ohio schlecht bestellt, trotz der hinüberdringenden Nachrichten über die faschistischen November-Pogrome in Deutschland.

Am 9. Juni und am 16. Juni wurde Prof. Ingeborg Rapoport stehend gefeiert, sowohl bei der Akademischen Promotion an der Alster als auch im überfüllten Filmtheater Babylon ihrer langjährigen Wahlheimatstadt Berlin. Vor einem großen, anteilnehmenden Publikum bekannte die „Pankowerin“: „Man hat ja erst versucht, mir einen Ehrendoktor anzudrehen, wie ich vom Dekan der Medizinischen Fakultät Hamburg, Koch-Gromus, erfuhr. Daran waren wir beide nicht interessiert. Daraufhin musste eben eine richtige Prüfung gemacht werden. Es war die schlimmste Prüfung meines Lebens, ich hatte Lampenfieber. Trotzdem überwog das Gefühl der Befreiung, es ging ja nicht nur um meine Person. Das eigentliche Thema, für das wir alle an einem Strang gezogen haben, wurde ja nun aufgearbeitet (nämlich als konsequentes Weiterführen der bis in die 80er Jahre verschleppten Entnazifizierung in der Hamburger Ärzte- und Professorenschaft, mitverantwortlich fürs Zulassen und Beschweigen von rassistischer Judenvernichtung und „Kindereuthanasie“ vor Ort, HF). Ich danke der Universität Hamburg für ihre ehrlichen Bemühungen, nicht die Vergangenheit zu ignorieren, sondern mit ihr fertig zu werden, damit es zu etwas Neuem und Besserem führen kann. Das war das Wesentliche, auch für mich sehr schön.“

„Die Rapoports – unsere drei Leben“

Zu Ehren der 1912 geborenen Memoiren-Autorin und ihres verstorbenen Ehemanns, dem Biochemiker und Mediziner Prof. Samuel Mitja Rapoport (27.11.1912–7.7.2004), präsentierten die anwesenden Filmemacherinnen Britta Wauer und Sissi Hüetlin ihre darauf fußende Fernsehdokumentation im Babylon. Sie wurde 2004 von Ziegler Film produziert und bei ZDF/arte für das Sendeprogramm durchgesetzt. 2005 erhielt der Beitrag den begehrten Grimme-Preis. In Archiv- und Neuaufnahmen an den Drehorten Berlin, Cincinatti und New York wird der Lebensweg des berühmten Forscher-Ehepaars nachvollziehbar. Ingeborg Rapoport zeigte sich im Babylon zufrieden: „Das ist nicht nur die Geschichte der Rapoports, sondern auch die des 20. Jahrhunderts.“

Das Paar lernte sich 1944 am Children’s Hospital der Universität Cincinnati/Ohio kennen, heiratete zwei Jahre später und einigte sich auf Mitjas Prioritäten: Dienst für die kommunistische Partei, der auch Ingeborg beitrat; gemeinsame wissenschaftliche Arbeit; Partnerschaft mit nach und nach vier Kindern. Als Zeitzeuge im Film-Doppelporträt erinnerte Folksänger Pete Seeger mit seiner Gewerkschaftshymne besonders an Mitja Rapoport: Fernab der Kraftzentren während der großen Streiks in der amerikanischen Automobil- und Stahlindustrie verteilte dieser den „Daily Worker“ und interessierte sich für die Gruppierungen in der antirassistischen Bürgerrechtsbewegung.

Ende der 40er Jahre lastete eine gezielte antikommunistische Pressekampagne auf der Familie. In einer Vorladung Mitja Rapoports vor das McCarthy-Tribunal für „unamerikanische Umtriebe“ kulminierte sie am Vorabend des Korea-Krieges 1950, so dass er von einem Kongress in der Schweiz aus Anstellung in Europa suchte. „Man wollte so gerne heldenhaft sein, sich stellen, gar nichts verraten“, bemerkte Ingeborg über ihre neuerliche Flucht, diesmal aus den USA mit drei Kindern und hochschwanger, „doch was wäre aus den Kindern geworden?“ So verfolgte sie der lange Arm der CIA sogar in Wien. Blockierte Dollar-Spritzen für akademische Arbeitsplätze reichten dort aus, sie zu zweijähriger Arbeitslosigkeit und Armut zu verurteilen.

Aus dem kriegszerstörten DDR-Teil Berlins erreichte Mitja Rapoport im Februar 1952 ein Ruf auf eine Professur für Physiologische Chemie an der Charité. Von dort aus führte er eine Entwicklungslinie auf dem Gebiet der Biochemie zur Entfaltung, die Mitte des 19. Jahrhunderts von berühmten deutschen Wissenschaftlern bestimmt worden war, aber seit den frühen 1920er Jahren bis 1945 abrupt unterbrochen wurde. Im Lauf von 25 Jahren bildete er über 45000 Nachwuchswissenschaftler aus, leitete die IPPNW-Sektion der DDR und organisierte viel beachtete internationale Kongresse.

Im Dienst für gesunde Säuglinge und Frühgeborene

Ingeborg Rapoport, zunächst Oberärztin am Hufeland-Kinderkrankenhaus Berlin-Buch, bestand 1953 die Prüfung als Fachärztin für Kinderheilkunde. Sie habilitierte sich 1959 an Mitjas Uni-Institut, das nun schon zu einem biochemischen umgewandelt war. Von da an war sie bis zu ihrer Emeritierung 1973 an der Charité-Kinderklinik tätig, wo sie als ordentliche Professorin für Pädiatrie 1969 eine der ersten deutschen Abteilungen für Neonatologie begründete. Parallel dazu erhielt sie den ersten europäischen Lehrstuhl mit klinisch/experimenteller Forschungsabteilung. Die – in der DDR verbindliche – Durchsetzung der Früherkennung von behandelbaren Stoffwechselkrankheiten rund um die Geburt wurde damit in Lehre und Forschung maßgeblich von Ingeborg Rapoport vorangetrieben. Richtungweisend in diesen Jahren war das interdisziplinäre nationale Forschungsprojekt „Perinatologie“ mit seinen messbaren Erfolgen zur Gesundheitsversorgung von Mutter und Kind. Daraus resultierte eine international anerkannte Senkung der Säuglingssterblichkeit in den 1970er und 1980er Jahren, die 1984 mit einem kollektiven Nationalpreis der DDR geehrt wurde.

So verschmolz der berufliche Neubeginn der Rapoports mit dem gesellschaftlichen, sie waren unmittelbar am Renommee des Wissenschaftslandes DDR beteiligt.

Nach dem Verschwinden ihres Staates leitete Ingeborg Rapoport von 1992 bis 2002 die in Berlin gegründete Interessengemeinschaft Medizin und Gesellschaft e. V. Fundiert unterstützen darin Angehörige der medizinischen Wissenschaftselite der DDR die aktuellen Auseinandersetzungen in der Gesundheitspolitik, Wissenschaft und Praxis. Die damit verbundene „Schriftenreihe Medizin und Gesellschaft“ mit 63 Editionen widerlegt u. a. nicht nur die Charakterisierung der DDR als „Unrechtsstaat“, sondern dokumentiert zugleich bewahrenswerte Perspektiven eines demokratischen Gesundheitswesens und Anforderungen an eine zukünftige Gesundheitspolitik in Deutschland. Sie kann über die Deutsche Bibliothek in Frankfurt/Main abgerufen werden.

(Benutzte und weiterführende Literatur dazu: Pankower Vorträge „Medizin – eine Biowissenschaft“, Helle Panke e. V., Heft 174)

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"Aufgearbeitete Vergangenheit, bewahrte Zukunft", UZ vom 26. Juni 2015



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