Kubas Wirtschaft zwischen Krise und Neuanfang

Aufbruch ins Unbekannte

Marcel Kunzmann

Seit Anfang Februar hat Kuba einen neuen Wirtschaftsminister, auch die Leitung der Zentralbank und anderer Schlüsselbereiche wurde neu besetzt; die umfangreichste Regierungsumbildung seit Jahren. Kubas Sozialismus befindet sich inmitten eines historischen Transformationsprozesses.

Mehr als 500.000 Kubaner haben das Land seit 2021 allein Richtung USA verlassen; weitere sind in alle Teile der Erde migriert.

Die seit 1962 laufende Blockade verschärfend, geriet die Insel ab 2017 in das Zentrum der in dichter Taktung eskalierenden Trumpschen Sanktionspolitik mit ihren mehr als 200 Einzelmaßnahmen, die vom Tourismus bis zum internationalen Marktzugang neuralgische Punkte der Wirtschaft lähmten. Eine erste Energiekrise folgte. Abnehmende finanzielle Spielräume und eine Erosion der produktiven Basis führen manche kubanische Ökonomen auf einen zu langsamen Reformprozess zurück.

Dann kam die Pandemie, die alle wichtigen Devisenbringer abwürgte, was das Land jedoch nicht davon abhielt, zwei hochwirksame Impfstoffe zu entwickeln. Mit der Aufnahme in die „Terrorsponsoren“-Liste der US-Regierung im Januar 2021 wurde Kuba zum Pariastaat für internationale Finanzinstitutionen. Die landesweiten Proteste im Juli 2021 markierten einen Höhe-, doch keinen Wendepunkt der Krise.

Das Ende des Mangels

Inzwischen hat sich die Insel mit eigener Kraft aus der Schockstarre befreit. Überall sind mit Einführung der kleinen und mittleren Unternehmen (KMU, auf Kuba „MIPYMES“ für micro, pequeñas y medianas empresas genannt) seit September 2021 neue Geschäfte entstanden. An jeder Ecke ein neuer Kiosk, ein Textilgeschäft, ein kleiner Supermarkt. Zu kaufen gibt es alles, was es vor der Krise gab, und mehr: spanische Milch, Serrano-Schinken, Nutella und Bier aus aller Welt sind zumindest in Havanna oft nur einen Steinwurf entfernt, das Angebot konstant.

Und der Wandel ist nicht auf die Hauptstadt beschränkt. In der ostkubanischen Provinzstadt Contramaestre fand Ende 2023 einer der zahlreichen Märkte („Ferias“) statt, bei denen inzwischen der Privatsektor überwiegt. Kleidung, Haushaltswaren und allerlei Lebensmittel, die vor Jahren nicht einmal in Havanna auffindbar gewesen wären, wechseln in der Provinz den Besitzer. Der staatliche Einzelhandel hat sich mangels Devisen teilweise mit den KMU assoziiert, um das Sortiment aufzustocken. In jedem noch so kleinen Dorf gibt es mittlerweile mindestens einen Kiosk, der einen großen Teil des Sortiments der ehemaligen CUC-Geschäfte (der 2021 abgeschaffte konvertible Peso wurde 1994 eine Parallelwährung zum US-Dollar) gegen Landeswährung verkauft. Die Öffnung des Außenhandels für den Privatsektor ist ein neuer Weg, auch wenn dieser meist über Staatsbetriebe und Joint Ventures erfolgt. Dessen Ergebnisse sind nach gerade einmal zwei Jahren bis in die entlegensten Winkel des Landes sichtbar. 2023 haben die KMU Waren im Wert von mehr als einer Milliarde US-Dollar eingeführt, was der Hälfte aller Lebensmittelimporte des Vorjahres und rund 10 Prozent der Gesamtimporte entspricht. Eine beträchtliche Summe, die der Staat für andere Dinge einsetzen konnte.

Im Unterschied zur 2010 ausgeweiteten „Arbeit auf eigene Rechnung“ verfügen die KMU über eine eigene Rechtsform und dürfen bis zu 100 Personen beschäftigen. Sie operieren in der Regel als „Sociedad de Responsabilidad Limitada“ (SRL), die in etwa einer deutschen GmbH entspricht. Damit sind neben einem attraktiveren Steuersystem, Haftung über das Firmen­eigentum und Zugang zum Außenhandel auch Kooperationen mit dem Staatssektor und ausländischen Investoren möglich. Gründungen sind nun in sämtlichen Branchen mit Ausnahme einer 112 Punkte umfassenden Negativliste erlaubt, die vor allem traditionell staatliche Tätigkeitsfelder wie Militär, Gesundheitswesen, Wasser- und Energiewirtschaft, aber auch Bergbau, Medien, Zuckerindustrie und Großhandel umfasst. Letzterer ist inzwischen explizit für ausländische Investitionen geöffnet. Neue Onlineshops sind entstanden, mit eigener Logistik und eigenem Lieferservice, in denen vom Gefrierhühnchen über Textilien, Medikamente und Pkw bis hin zu Baumaschinen, Traktoren und Mähdreschern so gut wie alles gegen Devisen erworben und eingeführt werden kann. Der Begriff der Mangelwirtschaft trifft inzwischen jeden Tag ein Stück weit weniger auf die kubanische Wirklichkeit zu. In einigen Bereichen hat sich der Verkäufermarkt bereits zu einem Käufermarkt gewandelt, der möglicherweise noch am Anfang seiner Entwicklung steht.

Die Preise im Privatsektor bilden sich in der Landeswährung entlang des informellen Wechselkurses, der im Dezember 2023 bei rund 270 Pesos pro US-Dollar lag. Sie sinken mit dem Angebot: Der Preis für eine Dose Bier fiel zum Beispiel von 300 Pesos bis Ende 2023 auf rund 220 Pesos (etwa 0,75 Euro).

Auch die heimische Produktion erlebt eine zarte Blüte. Butter, Käse und Trockenfrüchte „Made in Cuba“ beanspruchen ihren Platz in den Regalen von neu entstandenen „Tante-Emma-Läden“. Kleine Lebensmittelindustrien haben sich in stillgelegten Staatsfabriken angesiedelt und private Baubetriebe renovieren Krankenhäuser und Schulen. Die von Karl Marx beschriebene „allgemeine Formel des Kapitals“, der Kreislauf Geld – Ware – mehr Geld, kommt mehr als ein halbes Jahrhundert nach der „revolutionären Offensive“ (1968 wurden kleine und mittlere Privatunternehmen verstaatlicht) wieder ins Rollen.

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Sammlung frischer Milch auf Kuba. Derzeit hat die kubanische Regierung Probleme, die Versorgung von Kindern unter ­sieben Jahren mit einem Kilogramm Milchpulver im Monat sicherzustellen. (Foto: MINAGCuba)

Eine Studie aus dem Frühjahr 2023 gibt Einblick in die Zusammensetzung des KMU-Sektors, der bis Ende 2023 9.747 genehmigte Betriebe mit 262.000 Beschäftigten zählte und rund 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts stellte. So sind 50,4 Prozent der KMU Kleinbetriebe mit elf bis 35 Angestellten. 27,5 Prozent sind mittlere Betriebe mit 36 bis 100 Beschäftigten. 22,1 Prozent sind Kleinstbetriebe, deren Belegschaft maximal 10 Personen umfasst. 34 Prozent sind im Bereich Nahrungsmittelherstellung und -vermarktung angesiedelt, wozu auch die Gastronomie zählt. Beschränkt man die Auswahl auf reine Lebensmittelproduzenten, arbeiten 15 Prozent in diesem Bereich. 21 Prozent sind in anderen produktiven Gewerben tätig, wie Baugewerbe und Leichtindustrie. Die relative Mehrheit von 45 Prozent bietet Dienstleistungen an, deren Bandbreite vom Handel über Schönheitssalons, diverse Transport- und Reparaturdienste bis hin zur Entwicklung komplexer Software reicht.

Die Gesichter hinter den KMU spiegeln die Gesellschaft wider: Die ehemalige Dorfbibliothekarin, die heute einen Kiosk betreibt, ist genauso vertreten wie der umtriebige Köhler, der sich als Importeur verdingt, mit spanischen Firmen Verträge abschließt, um anschließend mit der Gemeindeverwaltung über die Anmietung eines Lagerhauses zu verhandeln. Nicht wenige sehen sich in gesellschaftlicher Verantwortung und spenden Teile ihrer Einnahmen an soziale Projekte ihres Viertels. Andere haben sich zum Ziel gesetzt, möglichst viel Geld zu verdienen; auch Auslandskubaner und Ausländer mischen über Strohmänner im Privatsektor mit. Die meisten KMU-Inhaber, mehr als 75 Prozent, sind männlich. 40 Prozent der Betriebe haben ihren Sitz in Havanna.

Widersprüche

Durch Kubas Hauptstadt weht ein neuer Wind. Das Angebot hat sich in alle Richtungen erweitert. Ausländische Softdrinks bedrängen die lokale Fruchtsaftproduktion; neue Importzölle für Fertigwaren sollen helfen, nun wieder heimische Produktion zu fördern.

Auch auf den Straßen ein ungewohntes Bild: Ein nagelneuer roter Porsche Cayenne fährt die Calle 23 im Herzen Vedados entlang. Riesige SUV und Kühltrucks aus den Vereinigten Staaten sind ab und an selbst in der Provinz zu sehen, möglich durch eine 2022 eingeführte Sanktionslockerung, welche die Einfuhr von US-Fahrzeugen für Privatbetriebe und -personen erlaubt. Wenige Ecken weiter, in einer Nebenstraße, durchwühlt ein verwahrlost aussehender älterer Mann den Müll. Zwei Ansichten, die noch vor wenigen Jahren Gegenstand wilder Zukunftsszenarien waren.

Während die „Sonderperiode“ der 1990er Jahre einen für alle gleichmäßig drastischen Wohlstandsverlust bedeutete, treten jetzt soziale Unterschiede offen zutage. Die Differenzierung der kubanischen Gesellschaft ist keine Neuigkeit mehr, hat jedoch mit der aktuellen Krise weithin sichtbare Ausdrucksformen angenommen. Manche Konsumgewohnheiten unterscheiden sich nur wenig von denen in anderen Teilen der Welt: Social Media, Net­flix, Pizza bestellen und spätabends mit dem Taxi nach Hause zu fahren gehört zum Alltag.

Die seit 2019 flächendeckend verfügbaren und mittlerweile günstigen Mobildaten haben wie ein Katalysator auf die private Digitalwirtschaft gewirkt, die mit der staatlichen Förderung des Onlinehandels Rahmen und Auftrieb erhält. Vieles von dem, was von Touristen zum „authentischen, vom Konsumterror unbefleckten Kuba“ verklärt wird, ist in Havanna bereits Geschichte.

Anders als noch vor wenigen Jahren richten sich die Angebote im Privatsektor heute primär an das heimische Publikum. Doch woher stammt die lokale Kaufkraft? Eine Quelle sind die Geldsendungen von Auslandskubanern, die sich im letzten Jahr auf knapp 2 Milliarden US-Dollar beliefen. 2019 erreichten Kuba noch Geldsendungen in Höhe von 3,7 Milliarden US-Dollar. Man kann jedoch davon ausgehen, dass ein beträchtlicher Anteil heute als Bargeld kommt, die Besuche von Auslandskubanern haben massiv zugenommen. Die zweite wichtige Quelle liegt in den weit überdurchschnittlichen Löhnen des Privatsektors, der (ohne Landwirtschaft) insgesamt rund 900.000 Personen und damit knapp 20 Prozent aller Beschäftigten umfasst.

Die neue Nüchternheit

2,9 der 4,5 Millionen Beschäftigten in Kuba (64 Prozent) arbeiten im Staatssektor. Der durchschnittliche Monatslohn beträgt hier 4.209 Pesos (rund 16 Euro). Gegenüber 2019 ist die Kaufkraft der staatlichen Löhne um rund 55 Prozent eingebrochen und bewegt sich heute in etwa auf dem Niveau des Jahres 2007.

Die Löhne im kubanischen Staatssektor reichten trotz Subventionen kaum zum Leben, wie Raúl Castro mehrfach einräumte. Das hat nicht nur die externe, sondern auch die ökonomische Binnenmigration vom Staats- in den Privatsektor beschleunigt. Viele Stellen im Staatssektor bleiben unbesetzt; kommunale Dienste, Transport und Verwaltungsapparat sind ebenfalls betroffen.

Insbesondere Rentner ohne Familienanschluss, deren Bezüge 2.000 Pesos nur selten überschreiten, sind von Armut betroffen. Sie sind mehr denn je auf die 1998 eingerichteten staatlichen Suppenküchen („Sistema de Atención a la Familia“, SAF) angewiesen.

Mit der Abschaffung des konvertiblen Pesos (CUC), mit dem der Wechselkurs des Pesos von 1:1 auf 1:24 zum US-Dollar im Staatssektor abgewertet wurde, kam es zu Inflation. Ziel der Reform war die Schaffung wirksamer Anreize für Exporte, indem korrekte Preissignale gesetzt werden; der soziale und politische Preis mit teilweiser Dollarisierung der Wirtschaft war jedoch hoch. Der ursprüngliche Plan einer graduellen Abwertung ab 2016 wurde immer wieder verschoben und schließlich verworfen.

Die kubanische Wirtschaft ist seit jeher eine „offene Wirtschaft“, deren Produktion weitgehend auf Importe von Vorprodukten angewiesen ist – eines der strukturellen Probleme, das mit der Peso-Abwertung um 2.400 Prozent, auf 1:24 zum US-Dollar, angegangen werden sollte. Deren langfristig positive Wirkung bei der Förderung von Exporten und der Verteuerung der Importe führte allerdings kurzfristig zu einer zusätzlichen Belastung der Unternehmen, die der Staat mangels finanzieller Reserven und ohne Unterstützung durch internationale Finanzinstitutionen kaum abfedern konnte. Erst mit der Zunahme von Importen durch den Privatsektor und neuen Zollerleichterungen für Privatpersonen begann sich das Angebot ab 2022 wieder zu verbessern.

Administrativ festgelegte Preise und ein von der realwirtschaftlichen Entwicklung entkoppelter Staatssektor erweisen sich als Hemmschuh für die Entwicklung der Produktivkräfte. Die Zulassung von KMU und privatem Handel war dabei – anders als oft kolportiert – keine verspätete Antwort auf die Versorgungskrise oder die Proteste vom Juli 2021. Sie ist bereits seit 2017 in den Schlüsseldokumenten der KP Kubas als Teil des neuen Wirtschaftsmodells verankert. Ihre Umsetzung war keine taktische Maßnahme, sondern markiert zugleich einen zentralen strategischen Meilenstein des Reformprozesses.

Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, das nach dem alten Berechnungsschema im Jahr 2020 bei 9.499 US-Dollar lag, errechnet sich nach der Währungsreform bei 2.044 US-Dollar für das Jahr 2021, etwas mehr als die Hälfte des Werts von Vietnam, das in den späten 2000er Jahren an Kuba vorbeizog. Im regionalen Vergleich hat sich Kuba damit vom Mittelfeld vor Haiti auf den vorletzten Platz in Lateinamerika bewegt.

Dass Kubas BIP pro Kopf stets gut 80 Prozent unter jenem Wert lag, der jahrelang als feste (und einzige) Größe galt, ist ein Paukenschlag: Es macht Kuba von einem Middle- zu einem Low-income Country und zeugt zugleich von der wachsenden Möglichkeit und Bereitschaft, reale Daten und Verhältnisse als Entscheidungsgrundlage zu nutzen.

Das ab 2011 entworfene und 2016/17 konkretisierte neue sozialistische Entwicklungsmodell, mit dem die Regierung die Grundlagen für steigenden Wohlstand unter Wahrung sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit im Rahmen eines „prosperierenden und nachhaltigen Sozialismus“ legen will, soll bis zum nächsten Parteitag 2026 in seinen Kernelementen implementiert sein. Präsident Miguel Díaz-Canel kündigte im Juli 2023 „unumgängliche strukturelle Veränderungen der kubanischen Wirtschaft“ für die nächsten drei Jahre an, deren Beginn ein „makroökonomisches Stabilisierungsprogramm“ ist.

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Die Preise für Kraftstoffe wurden zum 1. März erhöht. (Foto: Enrique González (Enro) / Cubadebate)

Treibstoff wird seit 1. März für Touristen ausschließlich in Fremdwährung verkauft. Ein Liter Superbenzin ist an 30 neu eingerichteten Devisentankstellen mit 1,30 US-Dollar bepreist. Für kubanische Privatpersonen ist der Literpreis für Kraftstoff mit 94 Oktan von 30 Pesos (etwa 10 Eurocent) auf 156 Pesos (etwa 50 Eurocent) gestiegen. Inlandsflüge, Fernbus- und Zugfahrten sollen in einem späteren Schritt bis zu 700 Prozent teurer und nach dem 24:1-Wechselkurs im Staatssektor subventionsfrei werden. Der Strompreis für Privathaushalte wurde für Vielverbraucher ab 500 kWh pro Monat um 25 Prozent angehoben. Er wird allerdings auch nach den Änderungen weiterhin bezuschusst.

Die Libreta – eine Lebensmittelkarte – soll im Laufe des Jahres größere Anpassungen erhalten. Ihre Abschaffung zugunsten zielgerichteter Formen der Unterstützung war bereits 2008 angekündigt worden. Sie wird als Verteilungsinstrument absehbar beibehalten, allerdings werden die Preisstützen in diesem Jahr erstmals differenziert; Subventionen sollen vor allem vulnerablen Gruppen zugutekommen. Erste Libreta-Geschäfte („Bodegas“) haben bereits zusätzliche Produkte wie Duschgel, Gewürze, Bier und andere Lebensmittel zu nicht subventionierten Preisen im Sortiment.

Die Gehälter im Bildungs- und Gesundheitswesen sind als Teil des Stabilisierungsprogramms zum 1. Januar 2024 angehoben worden. Das Basisgehalt eines Grundschullehrers beträgt 4.010 Pesos pro Monat, ein Familienarzt verdient im ersten Jahr 5.060 Pesos. Damit sollen die Arbeitskräftefluktuation eingedämmt und ein Anreiz zur Wiederaufnahme der Beschäftigung in diesen Bereichen gesetzt werden. Zudem wurde ein neuer Wechselkurs angekündigt.

Um Anreize für lokale Produktion zu setzen, werden die Zölle für Rohstoffe und Zwischengüter um 50 Prozent gesenkt. Mit der Zollreform soll auch der weitverbreiteten Unterdeklarierung von Einnahmen entgegengewirkt werden, indem Gewinne direkt beim Import abgeschöpft werden. Lange Zeit war Kuba eine „Cash only“-Ökonomie, was Privatbetrieben ermöglichte, nur 20 Prozent ihrer Umsätze beim Fiskus anzugeben. Seit dem 2. Februar müssen alle Geschäfte mindestens eine Form bargeldloser Bezahlmethoden anbieten. Die Umsatzsteuer von 10 Prozent, die bislang nur für Verkäufe im staatlichen Einzelhandel erhoben wurde, gilt seit diesem Jahr für die gesamte Wirtschaft.

Das Programm wurde teilweise fälschlich als „neoliberale Schocktherapie“ kritisiert; aber es gibt weder Privatisierung von Staatsbetrieben noch Sozialabbau. Eher geht es um ein „Aufräumen der Tabellen“, mit dem der Inflation Rechnung getragen werden soll, indem offene Finanzlöcher geschlossen und eine erneute Abwertung des Pesos 120:1 vorbereitet werden. Die Verschiebung von Subventionen hin zur zielgerichteten Unterstützung für Bedürftige verfolgt das Ziel, die verfügbaren Mittel wirksamer zu nutzen. Auch muss das hohe Haushaltsdefizit von 18 Prozent gegenfinanziert werden. Allein für das kostenlose Bildungs- und Gesundheitssystem müssen 46 Prozent der Staatsausgaben aufgewendet werden. Insgesamt betragen die geplanten Sozialausgaben 63 Prozent des Budgets für 2024, 10 Prozent weniger als im Vorjahr.

Mehr Markt geplant

Ein Hauptbestandteil des neuen Modells ab der zweiten Jahreshälfte 2024 ist die Reform der Staatsunternehmen. 2023 stellten die Staatsunternehmen 87 Prozent des BIP und kamen für 75 Prozent aller Exporte sowie 92 Prozent aller Verkäufe auf; 80 Prozent aller Gewinne werden in nur 56 Betrieben erwirtschaftet.

Die auf dem VIII. Parteitag 2021 aktualisierten Reformdokumente definieren die kubanische Ökonomie als ein „sozialistisches Wirtschaftssystem (…) mit planmäßiger Leitung der Wirtschaft, das den Markt anerkennt und diesen im Interesse der Gesellschaft kontrolliert und reguliert“. Das „Eigentum des gesamten Volkes an den Produktionsmitteln“, das von privatem und genossenschaftlichem Eigentum ergänzt wird, steht als die hauptsächliche Eigentumsform im Vordergrund.

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Ein Verkäufer von Kochbananen in den Straßen der kubanischen Hauptstadt Havanna. (Foto: Joaquín Hernández / Xinhua)

Kubas ehemaliger Wirtschaftsminister José Luis Rodríguez benennt die Warenproduktion als deutlich älter als der Kapitalismus und auch im Sozialismus nicht einfach aufzuheben: „Die Aufhebung des Marktes als Mittler bedarf eines langen historischen Prozesses der Produktivkraftentwicklung.“ Plan und Markt seien keine Gegensätze, Letzterer müsse als Werkzeug der Planung genutzt werden. Die strukturellen Probleme der Zentralverwaltungswirtschaft sollen nach dem Vorbild Chinas und Vietnams gelöst werden. Zentraler Angelpunkt ist die Autonomie der Betriebe und davon ausgehend die Abschaffung der „weichen Budgetbeschränkung“ (wie sie der ungarische Ökonom János Kornai als definierendes Merkmal der klassischen sozialistischen Ökonomie beschrieben hat) für weite Teile des staatlichen Unternehmenssektors.

Im Dezember 2023 wurde ein erster Entwurf des Unternehmensgesetzes („Ley de Empresas“) veröffentlicht, dessen Verabschiedung für Sommer 2024 geplant ist. Darin wird als Ziel der Staatsunternehmen festgelegt, „zur Entwicklung des Landes auf Basis ihres kontinuierlichen ökonomischen Wachstums mit Gerechtigkeit und ökologischer Nachhaltigkeit beizutragen“. Künftig sollen Staatsunternehmen drei verschiedenen Typen zugeordnet werden:

  1. Lokomotiven im „Markt-Modus“: Grundsätzlich profitable oder profitabel zu machende Unternehmen (weit über 1.000) mit weitgehender Autonomie und eigenständiger Versorgung am Markt, die nicht vor Insolvenz geschützt sind.
  2. Monopole: Betriebe wie der staatliche Energieversorger Unión Eléctrica, die Wasserwirtschaft oder der Ölkonzern CUPET fallen in diese Kategorie von rund 200 Unternehmen. Sie werden – falls nötig – weiterhin Subventionen erhalten und arbeiten als Monopole ohne Konkurrenz.
  3. Grundversorger im „händischen Modus“: Stark subventionierte Unternehmen, die einen wichtigen Beitrag zur Grundversorgung leisten – zum Beispiel Apotheken, Optiker, kommunale Dienste und Transportunternehmen.

Der Staat ist in Vertretung des Volkes Eigentümer durch ein zu gründendes „Nationales Institut für staatliche Unternehmensvermögen“ (INAE), das dem Ministerrat unterstellt ist und Restrukturierungen anleiten soll. Es erinnert in seinem Aufbau an die „Kommission zur Kontrolle und Verwaltung von Staatsvermögen“ in China: Anders als im Fall der Leitung durch die Ministerien soll sich das INAE aus Ökonomen und Finanzexperten zusammensetzen, die ausschließlich auf die betriebswirtschaftlichen Kennzahlen zu achten haben, womit eine Rückkehr der Mikrosteuerung verhindert werden soll.

Die Leitungsorgane der jeweiligen Unternehmen setzen sich aus einem Vertreter des Eigentümers in Form eines vom INAE eingesetzten Aufsichtsrats („Junta de gobierno“) und einem Vorstand („Consejo de dirección“) zusammen, wobei der Aufsichtsrat über weitreichende strategische Kompetenzen verfügt. Die Auswahl der Mitglieder des Aufsichtsrats ergibt sich auf Basis von Kriterien wie Management-, Finanz- und Branchenexpertise und rotiert periodisch. Er muss darüber hinaus einen Arbeitervertreter enthalten, der von der Gewerkschaftsorganisation des Betriebs ausgewählt wird.

Aufgaben der KP Kubas

Die PCC selbst steht indes vor massiven Herausforderungen. Die Notwendigkeit der „Aktualisierung“ und Stärkung des marxistischen Denkens ist bereits 2011 als Teil der „Leitlinien“ des VI. Parteitags beschlossen worden. Das wäre nötig, um den Reformprozess ideologisch anzuleiten, aus der Partei selbst heraus kohärent begründen und langfristig projektieren zu können. Der Blick richtet sich auch hier in die sozialistischen Bruderländer, namentlich China, Vietnam und Laos, mit deren Kommunistischen Parteien die PCC bereits seit Jahrzehnten einen engen ideologischen Austausch pflegt.

Eine ursprünglich für das erste Trimester 2024 angesetzte Konferenz der Kommunistischen Partei, auf der Weltanschauung und Arbeitsweise der PCC diskutiert werden sollten, wurde auf die zweite Jahreshälfte verschoben, um alle institutionellen Kapazitäten für die Umsetzung der Wirtschaftsmaßnahmen einzusetzen. Die Reform der Medien im Rahmen eines neuen Pressegesetzes, das im Mai 2023 bereits durch die Nationalversammlung verabschiedet worden ist, liegt auf Eis. Andere gesellschaftliche Reformprojekte wie die Einführung der „Ehe für alle“ als Teil des neuen Familiengesetzes oder die Aktualisierung des Strafgesetzbuches wurden bereits 2022 umgesetzt.

Wie es langfristig um die in der Verfassung verankerte Rolle der Partei als „führende Kraft von Staat und Gesellschaft“ bestellt ist, wurde zuletzt wieder Gegenstand von Spekulationen.

In einer seltenen öffentlichen Rede ergriff der 92-jährige Raúl Castro am 2. Januar anlässlich des 65. Jahrestags der Revolution das Wort und stärkte Díaz-Canel den Rücken: „Ich weiß, dass ich die Meinung der historischen Generation zum Ausdruck bringe, wenn ich das Vertrauen in diejenigen bekräftige, die heute Führungsverantwortung in unserer Partei und Regierung sowie in den anderen Organisationen und Institutionen unserer Gesellschaft tragen“, so Castro. Es gebe in der Revolution „keine Widersprüche zwischen den Generationen (…), weil es unter ihren Kindern weder Neid noch Machtgier gibt“, unterstrich er den erfolgreichen Abschluss des 2018 eingeleiteten Generationenwechsels. „Keiner von uns alten Kämpfern klammert sich an Positionen (…) und solange wir noch Kraft haben, werden wir den uns zugewiesenen Posten bekleiden, wie bescheiden er auch sein mag.“ Der aktuellen Führungsriege schuf er freies Feld für personelle Umbildungen: „Diejenigen, die aufgrund unzureichender Kapazitäten, mangelnder Vorbereitung oder einfach nur, weil sie müde, dem Moment nicht gewachsen sind, müssen ihre Position an einen anderen Genossen abgeben, der bereit ist, die Aufgabe zu übernehmen.“ Die „Granma“-Ausgabe, in der die Rede erschien, zeigt, wie Raúl sowie Ramiro Valdés (91) und Machado Ventura (93), prägende Kader des Innenministeriums und der Partei und heute nach Raúl die beiden einflussreichsten „históricos“, gemeinsam mit Díaz-Canel die Fäuste nach oben strecken.

Auf Beschluss des Ministerrats soll Castros Rede „in den Basisorganisationen von PCC, Jugendverband und den Regierungsstrukturen“ analysiert und diskutiert werden. Gleichzeitig wurde Ende Januar zum ersten Mal seit Jahren eine größere Volksaussprache über das Reformprogramm und gesellschaftliche Fehlentwicklungen ins Leben gerufen, wobei Díaz-Canel Parallelen zur 1986 von Fidel Castro gestarteten „Berichtigung von Fehlern“ („Rectificación“) zog. Die Stoßrichtung auf wirtschaftlichem Gebiet ist diesmal die Schaffung eines gesellschaftlichen Konsenses zur Fortsetzung der Reformen und der Bekämpfung von Korruption.

Der Text wurde redaktionell stark gekürzt. Die Langfassung (PDF) findet sich hier:
kurzelinks.de/UZ-Kuba2024

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"Aufbruch ins Unbekannte", UZ vom 22. März 2024



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