Welche Lehren können Kommunistinnen und Kommunisten aus ihrer Geschichte ziehen?

Aufbruch in gesellschaftliches Neuland

Bruno Mahlow wurde 1937 als Emigrantenkind in Moskau geboren. 1947 zog seine Familie zurück nach Berlin. Er studierte am Institut für Internationale Beziehungen in Moskau und war im diplomatischen Dienst der DDR. Von 1973 bis November 1989 war er Vizechef der Abteilung Internationale Beziehungen des ZK der SED, danach kurzzeitig deren Leiter. Ab 1990 beriet er die Internationale Kommission beim Parteivorstand der PDS und war Mitglied des Ältestenrats. Im November vergangenen Jahres wurde er Mitglied der DKP. Der zweite Teil des Interviews folgt in der kommenden UZ-Ausgabe.

UZ: Die Sowjetunion hat in den 1930er Jahren deine Familie aufgenommen, als diese vor dem Faschismus fliehen musste. Wir haben am 30. Dezember den 100. Gründungstag der Sowjetunion begangen. Was bedeutet dieser Tag aus deiner Sicht?

Bruno Mahlow: Das war der 100. Jahrestag eines Staates, der sich erstmals in der Menschheitsgeschichte zur Aufgabe machte, die Macht wirklich zum Nutzen der Mehrheit – also der arbeitenden Menschen – auszuüben. Für diese besondere, neue Staatsmacht war die Rolle der Sowjets bestimmend. Sie spielten in der Revolution und in der Geschichte der Sowjetunion mal eine größere, mal eine geringere Rolle. So musste Lenin die Taktik und die Losung „Alle Macht den Sowjets!“ anpassen, als die Sozialrevolutionäre 1917 zeitweilig die Führung hatten.

Bei den Wahlen zu den Sowjets wurde immer ein Block der Kommunisten und Parteilosen aufgestellt und gewählt. Spricht man aber von Sowjetmacht, dann ist die sozialistische Orientierung gemeint – und diese lag nun mal völlig in der Verantwortung der Partei. Das war entscheidend. Die „Sponsoren der Konterrevolution“ strichen daher bereits am 14. März 1990 als Erstes alle Passagen aus der sowjetischen Verfassung, die sich auf die Rolle der KPdSU bezogen. Damit lag die Macht verfassungsrechtlich auf der Straße.

UZ: Du wurdest 1937 in Moskau geboren und hast als Kind den Überfall auf deine Heimat, die Sowjetunion, und den Kampf ihrer Völker gegen den Faschismus erlebt. Wie hat dich das geprägt?

Bruno Mahlow: Ich wuchs nicht nur als sowjetisches Kind, sondern als Kind des Großen Vaterländischen Krieges auf. Deshalb gilt für mich als deutschen Linken – ein Begriff, den ich wegen seiner Unschärfe ungern, hier aber bewusst verwende – an diesem 100. Jahrestag: Der Sieg der Sowjetunion über den Faschismus darf nie vergessen werden. Und sofort muss die Frage beantwortet werden: Wie war dieser Sieg möglich? Die Antwort lautet: Weil es historische Leistungen und Initiativen gab, die hoch zu würdigen sind. Wie der Sieg der Oktoberrevolution, der den Grundstein legte.
Nicht von ungefähr waren es ausgerechnet deutsche Linke wie Karl Kautsky, die 1917 von oben herab urteilten: Wie können die Russen nur in diesem rückständigen Land eine Revolution beginnen? Das war ein Problem, das auch Rosa Luxemburg beschäftigte. Die Gegner des Sozialismus, die sich deswegen auf sie berufen, vergessen dabei, dass sie sah, was in der Realität geschah, als sie die Auflösung der Provisorischen Versammlung kritisierte und fragte: Was sollten die Bolschewiki denn anderes machen? Der deutsche Diktatfrieden von Brest-Litowsk vom März 1918 war etwas Schlimmes, nur: Er hatte sich in wenigen Wochen weitgehend erledigt – dann gab es die Rote Armee. Selbst 86.000 Generäle und Offiziere der zaristischen Armee beteiligten sich. Einige von ihnen, wie Boris Schaposchnikow, Alexander Wassilewski oder Leonid Goworow wurden Marschälle der Sowjetunion und Kommandeure im Großen Vaterländischen Krieg. Die Aufstellung der Roten Armee beantwortete damals allen die Frage, warum die sozialistische Revolution in Russland siegen konnte.

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Bruno Mahlow

Aber es gehören noch zwei weitere historische Leistungen hinzu, wenn man erklären will, wie dieses Land den Faschismus besiegen konnte:

Erstens der GOELRO-Plan von 1920. Dieser „Staatsplan zur Elektrifizierung Russlands“ war ein Eckstein der Industrialisierung in einem rückständigen, von Krieg und Bürgerkrieg gelähmten Land. Der Plan sah den Bau von 30 Kraftwerken innerhalb von 10 bis 15 Jahren vor und wurde Anfang der 1930er Jahre erfüllt.

Zweitens die Entwicklung der „Neuen Ökonomischen Politik“ (NÖP) 1921. Strategisch ein Rückzug vom Kriegskommunismus hin zur Wiederzulassung kapitalistischer Elemente – Lenin setzte die NÖP gegen große Widerstände in der Partei durch. Das Problem, das die NÖP aufwirft, beschäftigt uns bis heute – siehe China, Vietnam oder Kuba. Es hatte etwas mit Genialität zu tun, 1921 diesen Weg einzuschlagen: Es ging darum, nicht zu schwafeln oder zu meinen, Revolutionen werden am grünen Tisch entschieden, sondern energisch zuzupacken – mithilfe kapitalistischer Elemente. Lenin unterstrich damals: Der Kapitalismus ist die fortschrittlichste Ausbeuterformation und die unmittelbare Vorstufe des Sozialismus. Von ihm müsse gelernt werden. Überliefert ist die Geschichte, dass einst Arbeiter zu ihm kamen, die ihren Betrieb übernehmen wollten. Lenin fragte sie, ob sie sich im Handel, im Geschäftsleben oder mit der Buchhaltung auskennen. Als sie verneinten, sagte er ihnen: „Seht ihr, ihr benötigt Spezialisten.“ Wie das ganze Land.

In jener Zeit gab es Repressalien, sie waren die Reaktion auf den Terror, der gegen die Sowjetmacht verübt wurde – genauer: international entfesselt wurde. Es war nicht einfach ein Bürgerkrieg der Weißen gegen die Roten. Man kann das sehr gut bei Michail Scholochow im „Stillen Don“ und bei Alexej Tolstoi im „Leidensweg“ nachlesen. Außerdem muss man wissen: Die Intervention der 14 Staaten gegen Sowjetrussland, die offiziell 1921 endete, wirkte fort. Es gab noch jahrelange Kämpfe mit bewaffneten Gruppierungen, die vom Ausland unterstützt wurden. In dieser Zeit die NÖP zu proklamieren – das war aus der Rückschau ein unglaublicher Schachzug.

UZ: Die Frage der Nationalitäten hat in Lenins Überlegungen zur Gründung der Sowjetunion eine zentrale Rolle gespielt – du hast zu diesem Thema viel gearbeitet. Wie schätzt du die Bedeutung dieser Frage ein?

Bruno Mahlow: Die Nationalitätenfrage stellte sich mit der Oktoberrevolution völlig neu und einmalig in der Weltgeschichte. Entscheidend war da die Orientierung auf einen Unionsstaat, die Sowjetunion. Ziemlich früh nach der Revolution vereinten sich vier Sowjetrepubliken – die russische, ukrainische, belarussische und später die transkaukasische. Bereits 1918 existierten außerdem zehn autonome Republiken. Es gab also ein breites Lernfeld, um zu studieren, wie die nationale Frage gelöst werden könnte. Für die Bolschewiki ging es unter der Führung Lenins um die Ausarbeitung einer Politik, die flexibel war und zugleich prinzipiell auf der jeweiligen Souveränität der Republiken aufbaute. Darüber, wie weit Souveränität und Vereinigung zu gehen hatten, gab es Auseinandersetzungen. Die Differenzen zwischen Stalin und Lenin in der nationalen Frage, dem Verhältnis zwischen Zentrale und Regionen wurden nachträglich aufgebauscht, obwohl Stalin von seinem Konzept der kulturellen Autonomie abging und sich für das Konzept Lenins entschied.

UZ: Wladimir Putin hat wiederholt Lenin für das Scheitern der Sowjetunion verantwortlich gemacht, ja für das Ende der russischen „Welt“.

Bruno Mahlow: Putin als nicht zu Ende studierter Hörer verschiedener Marxismuslektionen behauptet, Lenin habe vor allem mit seinem Nationalitätenkonzept eine Mine unter Russland gelegt. Lenin konnte aber nicht anders als die Dialektik von starker Zentrale bei gleichzeitiger Berücksichtigung bestimmter Rechte der Republiken zu betonen. Dass es später in der Nationalitätenpolitik zu Fehlern kam, ist bereits untersucht worden. Sie lassen sich in den Prozess der Entartung von Partei und Gesellschaft einordnen, in den die Sowjetunion geriet. Aber sie ändern nichts – so schmerzhaft sie waren – an der enormen Leistung, diesen Staat zu gründen.

Erinnert sei an die Schaffung von tausenden Industriebetrieben, an die gewaltige Leistung, die Industrie zu Beginn des Großen Vaterländischen Krieges zu verlagern. Selbst westliche Historiker erkennen an: Die Industrialisierung modernisierte das Land. Auch wenn nicht vergessen werden darf, dass dies unter den konkreten Bedingungen viele Opfer gekostet hat. Für den Bau der großen Werke wurden nicht nur Repressierte eingesetzt. Selbst Kriminelle wurden herangezogen, damit sie wiedergutmachten, was sie zerstört hatten.

Die Unionsidee ist etwas Tolles. Der Sowjetstaat verdient es, als eine heroische Leistung dargestellt zu werden. Ich komme dabei immer wieder auf Scholochow zurück, nicht nur auf den „Stillen Don“, sondern auf „Neuland unterm Pflug“. Ich spreche im Hinblick auf die Sowjetunion immer über den „Aufbruch in gesellschaftliches Neuland“ und habe schon zu vielen Genossen gesagt: Nehmt das Buch noch einmal zur Hand, lest es mit dem Wissen von heute. Vielleicht versteht ihr Buch und Geschichte heute besser. Der Roman spielt in der Zeit um 1930, als die Kollektivierung der Landwirtschaft vorangetrieben wurde. Und es geht in ihm auch um Weltrevolution und die Einstellung zu den Menschen. Eine der beiden Hauptfiguren, Makar Nagulnow, ist ein Hitzkopf, der für die Weltrevolution hier und jetzt arbeiten will. Er wird deswegen fast aus der Partei ausgeschlossen, weil die Weltrevolution – außer bei Trotzki – nicht auf der Tagesordnung stand. Aber das Problem, das Nagulnow verkörpert – das Ende der NÖP –, hatte gegen Ende der 1920er Jahre ein wichtiger Parteitag der KPdSU behandelt, der sich mit den Auffassungen Trotzkis, Nikolai Bucharins und Grigori Sokolnikows auseinandersetzte. Trotzki war der Meinung: Über Sozialismus reden wir dann, wenn es so weit ist, jetzt geht es um die Weltrevolution. Es ist heute noch schwer, einem jungen Heißsporn, der alles lieber heute als morgen auf den Kopf stellen möchte, begreiflich zu machen, dass solche revoluzzerhaften Ideen das Überleben eines Staates wie der UdSSR unmöglich machen. Der weltrevolutionäre Prozess hätte das Mutterland des Fortschritts verloren.

Diese Feststellung ignoriert nicht die Opfer: Die Repressalien wurden von Partei und Justiz verurteilt. Doch diese Dinge immer wieder nur demonstrativ in den Vordergrund zu stellen, dazu auch noch mit falschen Opferzahlen und verdrehten Fakten, ist abzulehnen. Es dient allein dazu, die Sowjetunion und die kommunistische Bewegung zu verunglimpfen und in den Dreck zu ziehen. Dass linke Kräfte das bis heute mitmachen, ist mehr als beschämend. Sie haben dem Antikommunismus einen Schub gegeben – und das wird in die Geschichte als Schande eingehen. Dazu gehört auch die Hinwendung der Linkspartei zum NATO-Kurs. Oder die Enthaltung bei der Abstimmung, in welcher der Bundestag die Hungerkatastrophe vor 90 Jahren in der Sowjetunion zum Völkermord an den Ukrainern erklärte. Das hat mit Taktik nichts mehr zu tun.

UZ: Wo siehst du die Aufgaben der Kommunisten in einer solchen Situation?

Bruno Mahlow: Wir wissen aus der Geschichte, dass jede Niederlage auch das Tor für neue Chancen öffnet. Leider tun sich auch revolutionäre Vertreter schwer, aus den Erfahrungen Lehren zu ziehen. Sie neigen dazu, alles noch einmal zu wiederholen – aber als Farce. Es ist manchmal zum Verzweifeln, aber dem dürfen wir nicht nachgeben. Dafür steht nicht nur das Beispiel der Volksrepublik China, sondern vor allem die sich vertiefende Krise des Kapitalismus. Dessen Vertreter suchen wieder einen Ausweg, einen, der immer in mehrere Kriege mündet. Und wenn nicht dorthin, dann in Abschaffung von Kultur und von Menschlichkeit. Hier geht es nicht allein um eine Frage des Klassenstandpunktes, sondern um normale menschliche Vernunft. Wenn die Rettung der Menschheit gelingen soll, dann rede ich noch nicht von einer neuen Weltordnung, von einer Vision für alle. Es ist vielmehr der Zeitpunkt gekommen, um allen zuzurufen: Wir dürfen einen Kurs zur Vernichtung der Menschheit nicht zulassen.

Jeder schaue sich in seinem Umkreis um, bei Kindern und Verwandten, Bekannten und Freunden: Nur wenn wir unbequem sind und sie mit dem konfrontieren, um was es heute geht, gibt es die Chance, etwas zu erreichen. Auch wenn wir nur eine Minderheit sind: Der Fortschritt in Wissenschaft und Technik und im gesellschaftlichen Wissen wurde immer von Minderheiten herbeigeführt. Allerdings sollten sie ein Konzept haben. Bei der Darstellung der Oktoberrevolution und der Geschichte der Sowjetunion stoßen wir immer darauf, dass nicht beachtet wird: Es gab kein fertiges Konzept. Aber die Machtfrage und die Eigentumsfrage wurden gestellt und sie bleiben auch heute die Kernfragen. Juri Andropow sagte im Juni 1983 auf einem ZK-Plenum der KPdSU: „Wir haben bisher noch nicht im erforderlichen Maße die Gesellschaft erforscht, in der wir leben und arbeiten, haben noch nicht die ihr eigenen Gesetzmäßigkeiten, insbesondere die ökonomischen, erschlossen. Deshalb sind wir gezwungen, sozusagen empirisch auf recht unrationale Weise mit Experimenten und Fehlern vorzugehen.“ Der Weg des Menschen zu einem sich als Eigentümer an gesellschaftlichem Eigentum Fühlenden habe sich als langwierig erwiesen. Letzteres wurde zwar in Liedern besungen, war aber nicht die Realität. Wenn es aber zu einer solchen Entartung in der Weltmacht kommt und wenn wir unsere Weltanschauung nicht weiterentwickeln, dann wirkt sich das auf die gesamte progressive Bewegung auf der Erde aus.

„Viele erfassen nicht den globalen Charakter der Krise“
Über Chruschtschows Voluntarismus und die Folgen des Verzichts auf die Entwicklung der kommunistischen Weltanschauung, die Dialektik als deren Seele und ihre Nützlichkeit in Debatten um den Sozialismus und China: Teil 2 des Gesprächs mit Bruno Mahlow in der kommenden Ausgabe.

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"Aufbruch in gesellschaftliches Neuland", UZ vom 13. Januar 2023



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