Wenn es ein Ereignis gibt, das so etwas wie einen Gegenentwurf zu der Sanktions-, Kriegs-, Terror- und Genozid-Politik des „Werte-Westens“ darstellt, so war es vom 22. bis 24. Oktober in Kasan zu beobachten. In der Hauptstadt der autonomen Republik Tatarstan im Südwesten Russlands fand das 16. BRICS-Treffen statt – ein Treffen der Superlative.
Die Botschaft war klar: Russland, das in diesem Jahr den Vorsitz hatte, ist alles andere als ruiniert oder isoliert. Staatschefs oder ihre Vertreter aus 36 BRICS- und BRICS-Anwärterstaaten waren gekommen. Auch UN-Generalsekretär António Guterres war angereist. Russlands Präsident Wladimir Putin hatte sich ein Mammutprogramm vorgenommen: Neben den Plenarsitzungen und Meetings unter anderem mit Medienvertretern gab es zahlreiche bilaterale Treffen mit den BRICS-Staatschefs und dem UN-Generalsekretär. BRICS war in diesem Jahr absolute Chefsache, das war nicht zu übersehen. Die Russen wollten BRICS mit dem Treffen in Kasan zu einem Durchbruch verhelfen. Rund 200 Vorbereitungstreffen zu Fachthemen hatte es gegeben. In Kasan sollten die Dinge zusammengeführt werden.
Anti-BRICS-Krieger
Es ging den strategischen Vordenkern nicht darum, möglichst schnell möglichst groß zu werden. So wurden keine weiteren Aufnahmen vorgenommen, allerdings wurden 13 neue „assoziierte Mitglieder“ bekannt gegeben, darunter Bolivien und Kuba und auch die Türkei. Die Partnerschaft im Bündnis entspricht nicht einer Vollmitgliedschaft, sondern kann als eine Art Vorstufe gesehen werden. Es ging um den Aufbau von Strukturen, um BRICS und den gesamten Globalen Süden für die geopolitischen und geoökonomischen Herausforderungen zu wappnen. Die Sanktionen, die vom US-geführten Westen gegen Russland nach dem 24. Februar 2022 verhängt wurden, die Kriege in Osteuropa und Südwestasien, der offen geplante Krieg in Ostasien, haben klargestellt, dass die Phase der hybriden Kriege gegen alle, die sich den Befehlen Washingtons zu widersetzen trachten, angebrochen ist.
Vor allem die Beschlagnahme von russischem Vermögen im Wert von 300 Milliarden US-Dollar hat viele wach werden lassen. Zwar lebt der Iran schon seit der Revolution 1979 mit massiven Sanktionen. Viele andere „missliebige“ Staaten wie Kuba, Venezuela, Nordkorea und Belarus ebenso. Gegen die VR China versuchte es die Trump-Regierung mit einem veritablen Wirtschaftskrieg. Das US-Finanzministerium listet 38 Sanktionsadressen mit tausenden, manchmal zehntausenden Sanktionen auf. Aber wenn die USA zu solch einem mafiösen Akt gegen einen so großen globalen Player bereit sind, sind keine in Dollar gehaltenen Vermögen mehr sicher. Mit der „Mutter aller Sanktionen“ erreichte der hybride Krieg eine neue Dimension.
Angst vor der De-Dollarisierung
Die Politisierung des Dollar-basierten globalen Finanz- und Wirtschaftssystems und seine Verwandlung zu einer geopolitischen Waffe macht es für alle Staaten, die einen Kurs der Unabhängigkeit, Souveränität und ökonomischer Prosperität wollen, unumgänglich, nach Möglichkeiten zu suchen, wie sie sich von den von Washington installierten repressiven Strukturen befreien können. Das gilt natürlich auch und ganz besonders für die BRICS-Organisation, die ja so etwas wie einen Gegenentwurf zu den Strukturen des neoliberalen Washington, zu IWF und Weltbank darstellt. Donald Trump hat den Anti-BRICS-Krieg erst kürzlich mit der Ankündigung angeheizt, dass er im Falle seiner Wahl Staaten, die sich der De-Dollarisierung anschließen, mit einem Zoll von 100 Prozent belasten würde.
Die politisch-ideologische Verfasstheit des US-Empires und seiner Satelliten lässt nicht erkennen, dass eine rationale, diplomatische Lösung der großen globalen Konflikte möglich sein könnte. Die autoritär-diktatorisch agierende EU-Führung hat die Interessen des Kontinents an die US-Geostrategie verraten. Die Kriegstreiber in Kiew, vor allem aber in Tel Aviv, agieren jenseits aller Moral und Humanität. Bei ihnen ist nicht einmal ein Genozid, wie in Gaza, oder ein Atomwaffeneinsatz auszuschließen. Angesichts dieser breit angelegten, hybriden Kriegsoffensive des Westens verspricht nur der Aufbau entsprechender Gegenmacht- und Abschreckungspositionen eine Lösung. Das betrifft nicht nur die militärische Seite, sondern auch die ökonomischen, monetären, technologischen und massenmedialen Sektoren.
Alternatives Finanzsystem
Wladimir Putin hatte zwar erklärt, man sei nicht gegen den Westen, man sei ein anderer Club. Für diese Äußerung gibt es sicher Gründe. De facto sind die BRICS aber eine anti-hegemoniale Vereinigung – und zwar durch ihre nackte Existenz und potentielle Macht. Russland, China und Iran haben längst das Fadenkreuz auf der Stirn – ebenso jeder Staat, der nicht nach den Washingtoner Regeln spielt. Eine entscheidende Aufgabe für BRICS ist daher der Aufbau ökonomischer, technologischer und monetärer Sanktionssicherheit, wobei in der Vorbereitung zu Kasan und in Kasan selbst der Aufbau eines alternativen Finanzsystems eine dominante Rolle spielte.
Natürlich war und ist allen an diesem Projekt Beteiligten klar, dass die Schaffung eines US-unabhängigen, nicht-imperialistisch-dominanten Finanzsystems eine Herkules-Aufgabe ist. Seit der Antike war die Etablierung einer dominanten Währung stets der monetäre Ausdruck der ökonomisch-militärisch-politischen Vormachtstellung eines Landes. Schon im 7. Jahrhundert vor unserer Zeit ließen Herrscher in Südwestasien ihr Konterfei auf Metallstücke schlagen, um einerseits den Fernhandel zu fördern, andererseits ihre Macht zu demonstrieren. Mit der Europäischen Expansion nutzten die europäischen Großmächte und das hinter ihnen stehende Handels- und Finanzkapital immer stärker das „Exorbitante Privileg“, das mit der Währungsemission verbunden ist. Heute bedrucken die USA gigantische Mengen praktisch wertlosen Papiers oder erzeugen per Mausklick immense Kontoguthaben, um überall in der Welt leistungslos einkaufen und ihr gigantisches Haushaltsdefizit von mehr als 2.000 Milliarden US-Dollar pro Jahr decken zu können.
Genau darum geht es in Kasan eben nicht. Es geht nicht darum, den Dollar gegen einen imperialen Rubel oder Renminbi auszutauschen, wie seinerzeit der Dollar das Pfund ablöste. Es geht um eine, sagen wir herrschaftsarme, gleichberechtigte und sanktionssichere Finanzarchitektur. Sie soll Handel, Finanztransaktionen, Kreditvergabe sowie Auslandsinvestitionen möglich machen und letztlich ökonomischen und gesellschaftlichen Fortschritt ermöglichen. Der Wunsch nach einer Alternative zur imperialen Finanzherrschaft ist nicht neu. Die nichtpaktgebundenen Staaten (Non-Aligned Movement, NAM), die sich 1955 in der indonesischen Stadt Bandung trafen, sind in gewisser Weise die Vorläufer der BRICS. Der Unterschied zu heute liegt in der ökonomischen Macht. NAM verfügte bei weitem nicht über die kritische ökonomisch-monetäre Masse, um unabhängig bleiben zu können. Die Sozialisten hatten vor dem Ersten Weltkrieg nicht ohne Grund auf eine Revolution in den entwickelten kapitalistischen Staaten gesetzt. Ihre Hoffnungen hatten sich nicht erfüllt. Die Staaten des Warschauer Vertrages blieben ökonomisch und technologisch – bis auf Sparten der Rüstungsindustrie – deutlich unterlegen.
Potential zur Geltung bringen
Das ökonomisch-industrielle Potential der in Kasan versammelten Staaten stellt das des Westens deutlich in den Schatten. Sie repräsentieren dazu die weltweit größten Wachstumsziffern, verfügen über gewaltige Rohstoffvorkommen und exzellente militärische Fähigkeiten. Das verändert die geostrategische Lage völlig. Die Aufgabe in Kasan bestand darin, die Strukturen zu schaffen, damit dieses enorme Potential kollektiv zur Geltung gebracht werden kann.
Dies ist ein langer, dornenreicher Weg. Die BRICS haben in Kasan zum Ausdruck gebracht, dass sie entschlossen sind, ihn gehen zu wollen. Sehr viel mehr allerdings noch nicht. Dennoch, die De-Dollarisierung ist auch vor Kasan längst auf dem Weg. Die Weltreservewährung US-Dollar hat in den letzten 20 Jahren deutlich an Statur verloren. Weltweit haben Zentralbanken statt in US-Dollar massiv in Gold als Währungsreserve investiert und so den Goldpreis in unbekannte Höhen getrieben.
Die imperiale Weltfinanzordnung hat sich in Jahrhunderten herausgebildet. Mit dem Bretton-Woods-Abkommen 1944 hatte das im Zweiten Weltkrieg entstandene US-Imperium seine spezifische Variante geschaffen, welche für nahezu unbegrenzte Operationsfähigkeit für das anglo-amerikanische Finanzkapital in der westlichen Welt sorgt. Welthandelsorganisation, Internationaler Währungsfonds und Weltbank haben eine neoliberale Austeritäts-Philosophie etabliert, die den Profit des Finanzkapitals (Share Holder Value) zum höchsten Wert überhaupt erhebt. Flankiert durch eine wirkmächtige globale Bewusstseinsmaschine, geheimdienstgesteuerten Einfluss-, Regime-Change- und Terror-Organisationen und nicht zuletzt durch das ultimative Inkasso-Unternehmen, die US-Kriegsmaschine. Die Frage lautet: Wird BRICS tatsächlich in der Lage sein, einen neuen, emanzipativen Bretton-Woods-Moment zu kreieren?
Der Versuch dazu gleicht in gewisser Weise der Quadratur des Kreises. Mit der Intensivierung des Handels zwischen den BRICS-Staaten entstehen zwangsläufig erhebliche Disparitäten, die sich in gegenläufigen Finanzströmen spiegeln. Wenn Russland beispielsweise durch seinen gesteigerten Ölexport nach China erhebliche Mengen an Rupien einnimmt, so stehen dem nicht gleichwertige Exporte Indiens nach Russland gegenüber. Russland weiß mit den in der Zentralbank angesammelt Rupien nicht unbedingt viel anzufangen. Dabei ist irrelevant, ob diese Währungsdisparitäten im Bereich konventioneller oder zentralbankgestützter Digitalwährungen (CBDC) entstehen. Hier geht es nicht um die Praktikabilität von Zahlungsmitteln im privaten Einzelhandel. Das kann sicher relativ einfach gelöst werden, und Ansätze dazu liegen ja auch vor. Welche Probleme eine gemeinsame Währung bei unterschiedlich starken und sehr verschieden ausgerichteten Ökonomien auslösen kann, zeigt zum Beispiel die anhaltende Krise des Euro. Er bescherte zwar der (ehemals) exportstarken Bundesrepublik Vorteile im zweistelligen Milliardenbereich, stürzte aber andere, wie zum Beispiel Griechenland, in die Armut.
Hoffnung des Globalen Südens
Die BRICS haben Großes geleistet. Wenn russische oder chinesische Vertreter in die arabischen Staaten oder nach Afrika reisen, können sie an die große Tradition des Sozialistischen Internationalismus anknüpfen und werden jubelnd empfangen. Es ist ihnen gelungen, lange bestehende interne Widersprüche, zum Beispiel zwischen Iran und Saudi Arabien oder zwischen Indien und China, deutlich zu reduzieren. Nach Jahrhunderten der westlichen Überlegenheit, des Kolonialismus, der ewigen Kriege, der Millionen Toten und unbeschreiblichen Verwüstungen gibt es nun die Chance auf eine andere Welt. Auf eine Welt der Kooperation, des Respekts, des gemeinsamen ökonomischen Vorteils. BRICS steht dabei nicht allein. Das Infrastrukturprojekt Belt and Road Initiative (BRI), die Shanghai Cooperation (SCO), die Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft (EAEU), die ASEAN-Staaten und viele andere US-unabhängige Vereinigungen bilden ein großes Netzwerk, das mobilisiert werden kann und muss. Trotzdem bleibt der destruktive Einfluss des US-Imperiums weiterhin überdeutlich sichtbar. Und ebenso ist die Widersprüchlichkeit finanzkapitalistischer Profitwirtschaft auch durch BRICS nicht beseitigt.
Stärke und Schwäche zugleich
Die ideologische und gesellschaftspolitische Offenheit der antihegemonialen BRICS-Vereinigung ist ihre Stärke und Schwäche zugleich. Das war schon beim NAM-Projekt der Fall. Unter der Flagge der Multipolarität gelingt es aber zunächst, ein weltweites Fanal des Aufbruchs zu setzen und selbst so unterschiedliche Staaten wie China und Saudi Arabien zu vereinigen. Weit über 30 Staaten wollen offiziell BRICS beitreten. Ein gewaltiger historischer Fortschritt, und ein schwerer Schlag gegen die US-Vorherrschaft. Gleichzeitig tut sich eine so heterogene Gemeinschaft aber enorm schwer damit, klare Positionen gegen die hybriden US-Kriege oder den offenen Terrorismus der Zionisten zu formulieren. Nicht wenige wollen es sich mit Washington nicht verderben, wie beispielsweise Saudi Arabien oder die beitrittswillige Türkei. Sie wollen auf beiden Hochzeiten tanzen. Die militärischen Bündnisse gegen die US-Aggressionen beruhen weitgehend auf bi- oder multilateralen Vereinbarungen. Dennoch, die Richtung der Entwicklung ist unverkennbar. Die Uhr der 500-jährigen europäisch-nordamerikanischen Kriegs- und Ausbeutungsordnung läuft ab. Dies macht Kasan zu einem beeindruckenden Erfolg.
Größer und klüger
Zu den Ergebnissen des BRICS-Gipfels in Kasan gehört eine Erweiterung des Bündnisses – nicht um Vollmitglieder, sondern um Partnerländer. Es handelt sich um Algerien, Belarus, Bolivien, Indonesien, Kasachstan, Kuba, Malaysia, Nigeria, Thailand, Türkei, Uganda, Usbekistan und Vietnam. Die Assoziierung Venezuelas wurde durch ein Veto Brasiliens, das am 1. Januar 2025 den Vorsitz von BRICS für ein Jahr übernimmt, abgelehnt.
Der Gipfel verabschiedete zudem ein Abschlusskommuniqué namens „Kasaner Deklaration“. Die „Berliner Zeitung“ schreibt, es handele sich um „ein 33-seitiges Werk, das in 134 Punkten in kaum lesbarer Detailverliebtheit auflistet, was die BRICS bewegt. Dabei wird kein Bereich ausgelassen: Handel, Finanzen und Wirtschaft, Bildung und Wissenschaft, Sport und Kultur, Sicherheit, die Rolle der Frau, die internationale Ordnung, Freiheit, Menschenrechte und Demokratie.“ Das ambitionierte Dokument beweise jedenfalls den Ehrgeiz seiner Autoren: „Die westliche Deutungshoheit wird auf keinem Feld mehr unangefochten sein.“
Die Erklärung und weitere Beiträge gibt es im UZ-Dossier.