Widerstand gegen die Normalisierungspläne der Regierung in Chile

Auf Kosten der Arbeiter

Als „kriminell“ kritisieren Gewerkschaften und Linksparteien in Chile die Versuche der Regierung, zur Eindämmung des Coronavirus ergriffene Maßnahmen zu Lasten der Beschäftigten und Jugendlichen zu lockern. So nahm das Bildungsministerium erst auf Druck der Lehrervereinigung, der UNESCO und anderer Organisationen davon Abstand, die Schulen am 27. April wieder zu öffnen. Erst kurz vor dem avisierten Termin war Chiles Regierung zurückgerudert und hatte angekündigt, die „schrittweise“ Rückkehr der Schüler in die Klassen werde erst dann erfolgen, wenn der Höhepunkt der Krise vorüber sei. Dieser war zuletzt nicht absehbar, täglich wurden rund 500 neue Ansteckungsfälle in dem südamerikanischen Land bestätigt. Insgesamt waren am vergangenen Wochenende mehr als 12.000 Infektionen offiziell bestätigt worden, mehr als die Hälfte davon in der Hauptstadt Santiago de Chile und ihrer Umgebung.

Dem der Kommunistischen Partei Chiles nahestehenden Rundfunksender „Radio Nuevo Mundo“ gegenüber hatte die Gewerkschafterin Paulina Cartagena zuvor gesagt, ihr Gremium habe vor Gericht eine einstweilige Anordnung beantragt, weil die Entscheidung der Regierung von Staatschef Sebastián Piñera die Gesundheit sowohl der Pädagogen als auch der Schülerinnen und Schüler gefährde. Zudem kritisierte Cartagena, dass Chiles Regierung in dieser Situation den Bildungshaushalt weiter zusammenstreiche, wodurch Stellen für Psychologen und Sozialarbeiter wegfallen würden. Diese seien in der auch für junge Menschen schwierigen Situation besonders notwendig.

Die wirtschaftlichen Folgen der Krise sind dramatisch. Das Land verzeichnet einen tiefen Einbruch des Bruttoinlandsproduktes, es gibt Massenentlassungen in einem nie gekannten Ausmaß. Die Vorsitzende des Gewerkschaftsbundes CUT, Bárbara Figueroa, machte dafür die Politik der Regierung mitverantwortlich. Sie habe unzureichende Maßnahmen gegen das Virus ergriffen, so dass die Ausbreitung nicht gebremst werden könne. Als Beispiel nannte sie, dass sich das Kabinett nicht um informelle und selbstständige Beschäftigte – zum Beispiel Straßenhändler – gekümmert habe, während die Großkonzerne mit Steuersenkungen und Staatshilfen bedacht würden.

Für besondere Empörung sorgte auch die Entscheidung der Regierung, die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes wieder an ihre Arbeitsplätze zurückzurufen. Das sei nicht nur gefährlich, kritisierte Figueroa, sondern unterstelle den Angestellten zudem, im „Home-Office“ ihren Aufgaben nicht gerecht worden zu sein. Bevor man die Büros wieder öffne, müsse die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten gesichert sein, verlangte sie bei einer digitalen Pressekonferenz gemeinsam mit Vertretern der im öffentlichen Dienst aktiven Gewerkschaften. Figueroa warnte zudem, dass die Politik der Regierung gegenüber ihren Angestellten auch den Unternehmern in der Privatwirtschaft das Signal gebe, die ohnehin schon um jeden Preis ihre Geschäfte wieder aufnehmen wollten. Das Risiko müssten dann jedoch die Arbeiter tragen, die sich mit dem schnell ausbreitenden Virus anstecken könnten. Die einzige effektive Strategie, die Krankheit einzudämmen, sei bislang, Abstand zu halten. Die Gewerkschaften riefen ihre Mitglieder deshalb auf, die Wiederaufnahme der Arbeit in den Büros zu verweigern.

Sechs Oppositionsparteien, unter ihnen die Kommunisten, haben sich derweil zu einem „Pakt für das Leben und die Würde“ zusammengeschlossen. Das Bündnis erinnert in einer Erklärung daran, dass die Krise das Land mitten in der Kampagne für eine neue Verfassung überrascht habe. Das Referendum darüber wurde auf den Herbst verschoben, doch das Coronavirus habe noch einmal deutlich gemacht, dass das neoliberale Entwicklungsmodell nicht in der Lage sei, die aktuelle Wirtschafts-, Gesellschafts- und Gesundheitskrise zu beherrschen. Gefordert wird unter anderem die Nationalisierung aller strategisch bedeutsamen Unternehmen, weil das Leben der Chilenen nicht Gegenstand von Börsenspekulationen sein dürfe.

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"Auf Kosten der Arbeiter", UZ vom 1. Mai 2020



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