Warum man das Schlemmen nicht der Bourgeoisie überlassen darf – Special Edition

Auf ein Glas mit Goethe

Kaum eine Zeit im Jahr ist so sehr mit dem Schlemmen verbunden – dem Arnold Schölzel hier alle vier Wochen eine Kolumne widmet – wie der Urlaub. Insbesondere der Kurzurlaub, der oft ohne Ferienwohnung oder Camping mit eigener Kochmöglichkeit auskommt, lädt dazu ein, sich im Ferienort nach Restaurants und Kneipen umzuschauen. Manche Urlaubsorte sucht man sich sogar danach aus, ob es dort eine besondere regionale Küche gibt. An Orten, an denen man schon mal war, steht oft schon vorher fest, wo und was man schlemmen möchte (Bologna, La Linea, Piadina Verdura, dazu Weißwein des Hauses!). Und andere Orte überraschen einen, denn Kulinarik ist nicht das, womit man hier gerechnet hat.

Stilvoll

An einem dieser Orte checkt man in sein Hotel ein, freut sich über den tollen Ausblick auf den Park und besteigt fröhlich einen Bus in die Innenstadt, um zu erkunden, wo man denn da so gelandet ist. Vom Bus aus erste Blicke auf bekannte Gebäude, aber schließlich ist man ja auch wegen der Geschichte des Städtchens hier, also erst mal keine Überraschung. Raus aus dem Bus, potenziert sich auf einmal das Urlaubsgefühl: Neben einem Kulturzentrum spielt eine Jazzband, Menschen sitzen auf der Umrandung von Blumenbeeten, quatschen, trinken Bier und hören zu. Am Rande ein älterer Herr, drei Zeitungen dabei, die Nase in einer, eine Pfeife, eine Flasche Wein und dazu ein echtes Glas – witzig. Fast so, wie ein schlechter US-amerikanischer Film den ersten Besuch der Protagonisten in Europa darstellt. Beim Weiterschlendern fällt auf: der ältere Herr ist nicht der Einzige. Da sitzen Freundinnen mit Wein (in echten Gläsern), eine Freundesgruppe beobachtet ihre Kinder, die auf einem Stück moderner Kunst rumklettern, und trinkt dabei Wein (aus echten Gläsern!). Alle wirken überaus fröhlich und entspannt.

Als wir uns auf die Stühle des letzten freien Tisches vor einem Lokal fallen lassen, werden wir umgehend auf die Geschichte des Städtchens aufmerksam gemacht. Nach all den entspannten Menschen kommt wie der Blitz ein Kellner angeschossen und ruft: „Aber nur noch Getränke, die Küche ist zu!“ Stimmt ja, hier war mal DDR. Es ist 21 Uhr eins. Und wir haben uns selbst platziert. Ohwei. Dass wir Sekt bestellen, feiert der Kellner allerdings sehr. Wie verrückt ist es bitte, dieses Weimar?

Wo es goethet …

Weimar hat eine bezaubernde Altstadt, ist bekannt durch die gleichnamige Republik und die gleichnamige Klassik, das Bauhaus, eine der berühmtesten Bibliotheken der Welt – und über allem thronen Goethe und Schiller. Weimar ist aber auch der Ort, an dem man sich fragen muss, welches Volk das ist, das solche Dichter hervorbringt und Buchenwald zugelassen hat.

Heute wollen wir uns aber dem Weimar der Dichter und Denker (und der Genießer) widmen. Anlass dafür ist ein Geburtstag. Ein 275. zumal. Denn vor so vielen Jahren wurde am 28. August Johann Wolfgang Goethe geboren (wer auf das „von“ Wert legt, braucht es wahrscheinlich dringender als der Dichter selbst, der es für einen Brotjob in Anspruch nahm). Was macht man jetzt mit dieser Information? Ignorieren? Kluge Dinge in geschwätzigen Feuilletons lesen? Sich mit Grauen an die Schulzeit erinnern, in der man mit dem „Werther“ gequält wurde? Oder mit den Schultern zucken und denken: „Was geht mich Goethe an?“

Beginnen wir unseren Spaziergang durch Weimar mit dem Park an der Ilm, von den Einheimischen schlicht Goethe-Park genannt. Hier steht nicht nur das „Römische Haus“, das sich Herzog Carl August, der Goethe als Geheimrat in seine Dienste stellte, als Sommerresidenz bauen ließ (witzigerweise ungefähr eine halbe Stunde zu Fuß von seiner eigentlichen Residenz entfernt, also quasi eine Art Schrebergarten für sehr reiche Menschen) und Goethes entzückendes Gartenhaus (hier schrieb er große Teile der „Faust“-Dichtung, der „Iphigenie auf Tauris“, von „Egmont“ und „Torquato Tasso“). Der gesamte Park ist von Goethe nach englischem Vorbild angelegt worden, es gibt unterirdische Stollen zu besuchen, in denen der Dichter seine Mineralien gesammelt hat, und man kann ein an einer Treppe eingelassenes Goethe-Gedicht lesen, das er der Hofdame Christiane Henriette von Laßberg widmete, die sich aus unglücklicher Liebe zu ihm in der Ilm ertränkte – eine Ausgabe des „Werther“ in der Rocktasche.

Und in diesem Park sah Goethe auch das erste Mal seine spätere Ehefrau Christiane Vulpius (sehr viel später, es hat 18 Jahre und mehrere Schwangerschaften gedauert, bis sie heirateten) – und lud sie sofort für die selbe Nacht in sein Haus ein.

Man verlässt den Park an der Anna-Amalia-Bibliothek (benannt nach der Mutter von Carl August, ihrem Beitrag zur Entwicklung Weimars zu einem der kulturellen Zentren ihrer Zeit und ihrer Unwilligkeit, den ihr als Frau zugeschriebenen Platz zu akzeptieren, könnte man einen eigenen Beitrag widmen), läuft vorbei an Goethes Ginkgo-Baum (ein Gedicht über ihn und über die Freundschaft zu Marianne Willemer findet sich im „West-östlichen Diwan“) und ist schon mitten in der Stadt. Schnell gewinnt man den Eindruck, sich vor kulturellen Angeboten und Aktionen kaum retten zu können. Livemusik, Tanzveranstaltungen oder Filmvorführungen unter freiem Himmel prägen das Bild. Regelmäßig findet auf dem Frauenplan ein Weinfest statt. Direkt vor Goethes Wohnhaus. Das hätte dem Dichter gefallen.

Bei einem Winzersekt von der Mosel oder einem kühlen Riesling kann man dann einsteigen in die Debatte, ob man die alten Schinken denn noch lesen oder im Theater anschauen soll – und um eins vorweg zu nehmen: Ja, auf jeden Fall.

… und schillert

Goethe und Schiller waren Revolutionäre ihrer Zeit, einer Zeit des Feudalismus mit einer aufstrebenden Bourgeoisie, der Französischen Revolution und eines Napoleon, der sich vom Republikaner zum Kaiser wandelte. Sie schrieben für die Klasse, die damals die fortschrittliche war und die sich heute an der Macht festklammert. Sie revolutionierten die Dichtkunst, umgaben sich mit Denkern einer neuen Zeit und waren doch der alten zutiefst verbunden. Schiller schrieb über eigenständige, starke und kluge Frauen, hatte für solche im wahren Leben aber nur Verachtung übrig. Und Goethe? War gefangen zwischen den Ideen von Gleichheit und Brüderlichkeit, wissenschaftlichen Erkenntnissen, der Ablehnung von Religion und der Abhängigkeit von einem Herzog, mit dem ihn wohl auch eine tiefe Freundschaft verband.

Wohlgestärkt vom Weinfest verlässt man den Frauenplan und biegt in die Schillerstraße ein. Hier steht das Weimarer Wohnhaus des gleichnamigen Dichters, in dem er auch 1805 starb. Ihm gegenüber befindet sich „Hoffmann‘s Buchhandlung“, 1710 gegründet und damit eine der ältesten Buchhandlungen in Deutschland. Neben einer fantastischen Auswahl zeitgenössischer Literatur gibt es hier natürlich ein großes Angebot zu Goethe und Co. – inklusive hervorragender Kinderbuchversionen der Klassiker. (Wobei ich an Faust 1 für Zehnjährige etwas zweifle). Bevor man (zum Frühstück gab es bei uns ja nur das Weinfest, was der Vernunft etwas abträglich ist) den Kontostand völlig zerstört, folgen wir der Schillerstraße weiter bis zu einem kleinen italienischen Restaurant kurz vor dem Theaterplatz. Hier ist Aufmerksamkeit geboten, denn der Mund ist schnell verwirrt – sind wir noch in Weimar oder doch in Rom? Die Sonne brennt, die Karte ist klein, aber voller Köstlichkeiten, und auf einmal isst man für kleines Geld das beste Carpaccio seit Langem.

Die Klassiker über den Klassiker

Begeistert geht es um die Ecke, und dort – direkt vor dem Nationaltheater – stehen sie, Goethe und Schiller, das Dichterpaar. Zu ihren Füßen ist nochmal Zeit, sich der Frage zu nähern, ob es sich heute noch lohnt, Goethe zu lesen. Marx und Engels schreiben über ihn: „Goethe verhält sich in seinen Werken auf eine zweifache Weise zur deutschen Gesellschaft seiner Zeit. Bald ist er ihr feindselig; er sucht der ihm widerwärtigen zu entfliehen, wie in der ‚Iphigenie‘ (…) er rebelliert gegen sie als Götz, Prometheus und Faust, er schüttet als Mephistopheles seinen bittersten Spott über sie aus. Bald dagegen ist er ihr befreundet, ‚schickt‘ sich in sie, (…) feiert sie, (…) ja verteidigt sie gegen die andrängende geschichtliche Bewegung.“

Wie verhält sich also ein Dichter, der – unter den richtigen Umständen – wahrhaft revolutionär hatte sein können? Er schwankt – was soll er auch tun, ein wahrhaft revolutionäres Subjekt gibt es noch nicht. Und, schreiben Marx und Engels weiter: „So ist Goethe bald kolossal, bald kleinlich; bald trotziges, spottendes, weltverachtendes Genie, bald rücksichtsvoller, genügsamer, enger Philister. Auch Goethe war nicht imstande, die deutsche Misère zu besiegen; im Gegenteil, sie besiegte ihn, und dieser Sieg der Misère über den größten Deutschen ist der beste Beweis dafür, daß sie ‚von innen heraus‘ gar nicht zu überwinden ist.“ Schon allein aus diesem Grund sollte man ihn lesen.

Zum Wohl

Die Zeit in Weimar ist viel zu kurz, der Platz auf einer Zeitungsseite viel zu wenig. Deswegen noch ein paar Tipps zum Schluss, die man sich nicht entgehen lassen sollte. Das oben erwähnte Lokal am Frauenplan ist der „Weiße Schwan“, Goethes Lieblingsgasthaus, das er gern seinen Freunden empfahl. Wenn man es vor 21 Uhr schafft, gibt es dort gutbürgerliche Küche, die bei weitem nicht so teuer ist wie es der historische Ort vermuten lässt. Auf dem „Historischen Friedhof“ tummeln sich allerlei bekannte Persönlichkeiten und in der dort gelegenen Fürstengruft liegen nicht nur die Adeligen von Sachsen-Weimar, sondern auch die Gräber von Goethe und Schiller. Der arme Schiller ist hier allerdings nicht bestattet. Durch DNA-Abgleiche kam raus, dass die Gebeine im Grab von irgendjemandem waren. Schiller hatte man wohl verloren. Der arme unbekannte Tropf wurde umgebettet, Schillers Sarkophag ist seitdem leer. Goethe ging es fast noch schlechter: Nach der Befreiung vom Faschismus haben US-amerikanische Soldaten den Bleisarg geöffnet und Finger geklaut. Bakterien konnten eindringen und die Natur nahm ihren Lauf. DDR-Wissenschaftler griffen später in einer Nacht-und-Nebel-Aktion ein, um wenigstens die Knochen Goethes zu konservieren. Sonst hätte es hinterher noch geheißen: die Kommunisten lassen den Dichterfürsten verschimmeln.

Nach einem Besuch in Goethes Wohnhaus (man beachte vor allem die Flasche Wein auf dem Schreibtisch im Arbeitszimmer) geht es noch einmal in die Schillerstraße zum „Al Dente“. Nach wunderbarem Essen kann man die Flasche mit dem restlichen Wein mitnehmen. Uns schenkte der Kellner sogar die Gläser dazu.

Und so sitzt man dann da, in der Dämmerung auf den Stufen des Denkmals von Goethe und Schiller, mit Wein (aus echten Gläsern!), um einen herum drehen sich Pärchen zu Schostakowitschs „Walzer Nummer 2“ und man weiß, es ist nicht nur das Schlemmen, das man nicht der Bourgeoisie überlassen darf. Das gleiche gilt für die Hochkultur.

Lesetipps:
Johann Wolfgang von Goethe
Faust 1
Prometheus
Der Zauberlehrling

Friedrich Schiller
Die Räuber
Jürgen Bens
Der Stadtverführer
Mit Anekdoten und Geschichten durch Weimar

Tourist Verlag, 219 Seiten, 10 Euro
(Sie stimmen bestimmt nicht alle, die Anekdoten, aber als Reiseführer ist es einer der unterhaltsamsten.)
Ulrike Müller
Die klugen Frauen von Weimar
Insel Verlag, 171 Seiten, 15 Euro

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"Auf ein Glas mit Goethe", UZ vom 23. August 2024



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