Serebrennikovs Film „Leto“ – mehr Fragen als Antworten

Auf der Suche

Von Klaus Wagener

Es ist eine Flucht ins Belanglose, in die kleinen privaten Befindlichkeiten. Rock- und Popmusiker in Leningrad kämpfen sich durch die Mühen des städtischen Kulturbetriebs, singen, ein bisschen modernisiert, von Herz und Schmerz vor einem Publikum, das noch brav in seinen Stuhlreihen sitzt. In Kirill Serebrennikovs Film „Leto“ (Sommer) machen junge Menschen, was junge Menschen gewöhnlich machen. Sie hören Musik, machen Musik, feiern, trinken, lieben sich. Lagerfeuer am Strand, Nacktbaden in der See. Schöne Bilder, in leichter, melancholischer Stimmung, in edlem Schwarz-Weiß.

Es ist Anfang der 1980er Jahre. Die Welt steht am Abgrund einer atomaren Katastrophe. In Afghanistan rüsten CIA, die Saudis und der Mossad das islamistische Mittelalter gegen Saur-Revolution und die Rote Armee, die das zurückgebliebene Land endlich aus den Fängen von Feudalismus und Kolonialismus befreien wollten. Auf der ganz großen Bühne haben die Star-Wars-Krieger um Ronald Reagan ihre Kriegsvorbereitungen („Victory is possible“), bis an die Schwelle zur Erstschlagsfähigkeit vorangetrieben. Pershing II – Mittelstreckenraketen setzen die Vorwarnzeit auf wenige Minuten herab. Millionen sind auf den Straßen. Während des gigantischen Nato-Manövers „Able Archer“ kann der sowjetische Oberstleutnant Stanislav Petrov in buchstäblich letzter Sekunde den nuklearen Overkill verhindern.

Mike Naumenko (Roman Bilyk), seine Frau Natascha (Irina Starshenbaum) und seine Band Zoopark sind allerdings eher an westlichen Pop-Heroen wie David Bowie, Bob Dylan, T-Rex, den Sex Pistols oder Velvet Underground interessiert. Aber sie tun sich schwer, die dominierende westliche Popkultur auf die sowjetischen Realitäten zu übertragen. Das Ringen um die eigene Sprache, den eigenen Ausdruck beherrscht den ganzen Film. Serebrennikov fügt hier die Figur des jungen Viktor Tsoï (Teo Yoo) ein. Der introvertierte Viktor gilt als großes Talent. Er darf Mike vorsingen, der hilft ihm und bald begeistert Victor mit seinen lyrischen Stücken auch den Leningrader Rock-Club.

Es wird allerdings deutlich, dass sich die schöne Natascha nicht nur für Viktors Musik interessiert, sondern ebenso für den Musiker selbst. Mike ist zwar tief verletzt, Serebrennikov macht es mit einer ziemlich nassen Regensequenz deutlich, aber er zeigt Größe und lässt Natascha ziehen. Serebrennikov will erkennbar kein Melodram produzieren und ist sichtlich um den unpolitisch-positiven Charakter seiner Protagonisten bemüht. Harmlose Musik-Freaks eben, bis auf einige surreale Einlagen, die zeigen, was eigentlich hätte passieren sollen, die aber sofort, als „niemals geschehen“, kassiert werden.

Es ist die zunehmende Erosion der letzten Breshnew-Jahre. Die Kulturfunktionäre, in „Leto“ nicht unbedingt Charmebolzen, kämpfen allenfalls repressiv an der kulturell-ideologischen Front. Tatsächlich hatte der Sozialismus zu dieser Zeit an geistiger Hegemonie deutlich eingebüßt. Als der Imperialismus unter Ronald Reagan zum „Armageddon“, zum letzten Gefecht gegen das „Evil Empire“, das Reich des Bösen angetreten war, hatte der Rote Oktober unter dem Druck der ökonomischen Stagnation in vielen Bereichen seine innere Kraft und Siegeszuversicht verloren. Symptomatisch, die Hinwendung eines Teils der Jugend zu den pop-musikalischen Idolen des Westens. Natürlich nicht alle, es gab auch eine, dem Sozialismus verpflichtete Popkultur. Aber die Initiative war deutlich auf die andere Seite gewechselt.

Selbstredend hat die „westliche“ Medienpropaganda „Leto“ zu einem anti-sozialistischen Manifest aufgeblasen. Das Filmfestival in Cannes im Frühjahr feierte „Leto“ und seinen unter Hausarrest stehenden Regisseur entsprechend. Die gegenwärtigen Kriegstrommler versuchen, den anti-kommunistischen Reflex zu einem anti-russischen umzuschmieden. Das „Evil Empire“, das heutzutage selbst den Präsidenten des „Leuchtturms der Freiheit“ zu manipulieren in der Lage ist, ist heute bekanntermaßen Russland und dessen allmächtiger Diktator heißt Wladimir Putin.

Die russische Propaganda begegnet dieser Herausforderung, der realen wie auch der propagandistisch-kulturellen, durch eine weitgehende, sehr selbstbewusste Integration der sowjetischen Rolle im Kalten Krieg bis hin zur Übernahme des Heldenpathos des Großen Vaterländischen Krieges in die eigene Konfliktdarstellung. Was wir heute sehen, ist nicht neu. Es sind die Konzeptionen Westeuropas seit 200 Jahren. Und sie werden wieder in Waterloo oder Karlshorst enden.

Wir wissen nicht, wie sich Serebren­nikov entscheiden würde, wenn es zum Schwur käme. Es ist auch nicht wichtig. Wichtig wäre, darüber nachzudenken, ob sich aus „Leto“, trotz seiner anti-sozialistischen Phrasen nicht auch etwas lernen lässt. Die Jugend ist die Zukunft und wir wollen schließlich besser werden.

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"Auf der Suche", UZ vom 23. November 2018



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