Der deutsche Bauernkrieg – Teil 2: Die städtischen Fraktionen und die Lage der Bauern

Auf den Schultern der Bauern

Friedrich Engels

Vor 500 Jahren erhoben sich die Bauern in Deutschland. Aus diesem Anlass drucken wir Friedrich Engels’ Werk „Der deutsche Bauernkrieg“ in Auszügen ab. In UZ vom 6. September ging es um die Zuspitzung der sozialen Lage der Volksmassen. Durch die Entwicklung der Produktivkräfte hatte sich das feudalistische System ökonomisch überlebt. Seinen widersprüchlichen Ausdruck fand dies in der Stärkung der Fürsten und der Katholischen Kirche, die ihren Reichtum vermehrten, indem sie den Rest der Gesellschaft ausplünderten und gleichzeitig im Überfluss lebten. Die Bauern waren als Leibeigene oder Hörige dem Adel und der Kirche vollkommen ausgeliefert. Neben zahlreichen Steuern mussten sie Anteile der Ernte ihrer eigenen Landwirtschaft abliefern. Sie waren zu Frondiensten verpflichtet, das heißt, sie besorgten die Feldarbeit auf den Gütern ihrer Herren. Aber auch zu allen anderen möglichen Aufgaben, vom Straßenbau bis zur Unterstützung der herrschaftlichen Jagden, wurden sie herangezogen. Die Städte hingegen hatten sich über die Jahrhunderte eine Unabhängigkeit zumindest vom weltlichen Adel erarbeitet. Formal waren die Menschen in den Städten frei, allerdings auch hier einer starren Hierarchie unterworfen. Die Bürgerrechte wurden von den Räten der Städte verliehen – allerdings nur, wenn bestimmte soziale Voraussetzungen erfüllt waren. Dazu zählte etwa die Mitgliedschaft in einer Zunft, also dem lokalen Zusammenschluss der Handwerksmeister. Sie legten für ihre Gewerke die Preise und Regeln fest. Außen vor blieben in der Regel die Gesellen und Lehrlinge, die zwar als Freie in der Stadt wohnten, aber von den Bürgerrechten ausgeschlossen blieben. Auch in den Städten führte die Produktivkraftentwicklung zur Zunahme der sozialen Spannungen.

Engels analysiert diese geschichtlichen Vorgänge und untersucht deren Widerspiegelung im Bewusstsein der Menschen. Er arbeitet die Dialektik von materiellen Interessen und ihrer Erscheinung in teils verworrenen ideologischen Konstrukten heraus. Für die Zeit des Bauernkriegs musste die ideologische Formierung der Unterdrückten zur Klasse für sich über das Christentum erfolgen: Die Bibel war die einzige zur Verfügung stehende weltanschauliche Grundlage. Die Klassenkämpfe erscheinen deshalb als theologische Auseinandersetzungen um die Auslegung der „Heiligen Schrift“. In Abgrenzung zum überschwänglichen Lebenswandel der Kirchenfürsten predigten die fortschrittlichen Kräfte das Zurück zur Gleichheit in Armut des Urchristentums. Das „Zurück“ in eine vergangene Welt war aber nur durch den Aufbruch nach vorne zu lösen. Dafür reichte die Entwicklung der Produktivkräfte allerdings noch nicht aus.

Aus den ursprünglichen Pfahlbürgern der mittelalterlichen Städte hatten sich mit dem Aufblühen des Handels und der Gewerbe drei scharf gesonderte Fraktionen entwickelt.

An der Spitze der städtischen Gesellschaft standen die patrizischen Geschlechter, die sogenannte „Ehrbarkeit“. Sie waren die reichsten Familien. Sie allein saßen im Rat und in allen städtischen Ämtern. Sie verwalteten daher nicht bloß die Einkünfte der Stadt, sie verzehrten sie auch. Stark durch ihren Reichtum, durch ihre althergebrachte, von Kaiser und Reich anerkannte aristokratische Stellung, exploitierten sie sowohl die Stadtgemeinde wie die der Stadt untertänigen Bauern auf jede Weise. Sie trieben Wucher in Korn und Geld, oktroyierten sich Monopole aller Art, entzogen der Gemeinde nacheinander alle Anrechte auf Mitbenutzung der städtischen Wälder und Wiesen und benutzten diese direkt zu ihrem eigenen Privatvorteil, legten willkürlich Weg-, Brücken- und Torzölle und andere Lasten auf und trieben Handel mit Zunftprivilegien, Meisterschafts- und Bürgerrechten und mit der Justiz. Mit den Bauern des Weichbilds gingen sie nicht schonender um als der Adel oder die Pfaffen; im Gegenteil, die städtischen Vögte und Amtleute auf den Dörfern, lauter Patrizier, brachten zu der aristokratischen Härte und Habgier noch eine gewisse bürokratische Genauigkeit in der Eintreibung mit. Die so zusammengebrachten städtischen Einkünfte wurden mit der höchsten Willkür verwaltet; die Verrechnung in den städtischen Büchern, eine reine Förmlichkeit, war möglichst nachlässig und verworren; Unterschleife und Kassendefekte waren an der Tagesordnung. Wie leicht es damals einer von allen Seiten mit Privilegien umgebenen, wenig zahlreichen und durch Verwandtschaft und Interesse eng zusammengehaltenen Kaste war, sich aus den städtischen Einkünften enorm zu bereichern, begreift man, wenn man an die zahlreichen Unterschleife und Schwindeleien denkt, die das Jahr 1848 in so vielen städtischen Verwaltungen an den Tag gebracht hat.

Worterklärungen
exploitieren: ausbeuten
oktroyieren: hier im veralteten Sinn von verleihen gebraucht
Weichbild: Stadtgebiet
Unterschleife: Unterschlagung
Kassendefekte: Fehlbetrag in einer Kasse
Nepotismus: Vetternwirtschaft
Oligarchie: Herrschaft einer kleinen Gruppe
Schibboleths: Erkennungszeichen
Jurisprudenz: Rechtswissenschaft
Zehnt: 10 Prozent der Ernte für die Kirche
Gült: 20 bis 30 Prozent der Ernte für den Grundherren
Bede: Unregelmäßige Abgabe an den Landesherren, meist 3 Prozent des Vermögens

Die Patrizier hatten Sorge getragen, die Rechte der Stadtgemeinde besonders in Finanzsachen überall einschlafen zu lassen. Erst später, als die Prellereien dieser Herren zu arg wurden, setzten sich die Gemeinden wieder in Bewegung, um wenigstens die Kontrolle über die städtische Verwaltung an sich zu bringen. Sie erlangten in den meisten Städten ihre Rechte wirklich wieder. Aber bei den ewigen Streitigkeiten der Zünfte unter sich, bei der Zähigkeit der Patrizier und dem Schutz, den sie beim Reich und den Regierungen der ihnen verbündeten Städte fanden, stellten die patrizischen Ratsherren sehr bald ihre alte Alleinherrschaft faktisch wieder her, sei es durch List, sei es durch Gewalt. Im Anfang des sechzehnten Jahrhunderts befand sich die Gemeinde in allen Städten wieder in der Opposition.

Gemäßigte Bürger

Die städtische Opposition gegen das Patriziat teilte sich in zwei Fraktionen, die im Bauernkrieg sehr bestimmt hervortreten.

Die bürgerliche Opposition, die Vorgängerin unsrer heutigen Liberalen, umfasste die reicheren und mittleren Bürger sowie einen nach den Lokalumständen größeren oder geringeren Teil der Kleinbürger. Ihre Forderungen hielten sich rein auf verfassungsmäßigem Boden. Sie verlangten die Kontrolle über die städtische Verwaltung und einen Anteil an der gesetzgebenden Gewalt, sei es durch die Gemeindeversammlung selbst oder durch eine Gemeindevertretung (großer Rat, Gemeindeausschuss); ferner Beschränkung des patrizischen Nepotismus und der Oligarchie einiger weniger Familien, die selbst innerhalb des Patriziats immer offener hervortrat. Höchstens verlangten sie außerdem noch die Besetzung einiger Ratsstellen durch Bürger aus ihrer eignen Mitte. Diese Partei, der sich hier und da die unzufriedene und heruntergekommene Fraktion des Patriziats anschloss, hatte in allen ordentlichen Gemeindeversammlungen und auf den Zünften die große Majorität. Die Anhänger des Rats und die radikalere Opposition zusammen waren unter den wirklichen Bürgern bei weitem die Minderzahl.

Im übrigen eiferte die bürgerliche Opposition noch sehr ernstlich wider die Pfaffen, deren faules Wohlleben und lockere Sitten ihr großes Ärgernis gaben. Sie verlangte Maß-regeln gegen den skandalösen Lebenswandel dieser würdigen Männer.

Wir werden sehen, wie während der Bewegung des sechzehnten Jahrhunderts diese „gemäßigte“, „gesetzliche“, „wohlhabende“ und „intelligente“ Opposition genau dieselbe Rolle spielt, und genau mit demselben Erfolg, wie ihre Erbin, die konstitutionelle Partei, in der Bewegung von 1848 und 1849.

Im übrigen eiferte die bürgerliche Opposition noch sehr ernstlich wider die Pfaffen, deren faules Wohlleben und lockere Sitten ihr großes Ärgernis gaben. Sie verlangte Maßregeln gegen den skandalösen Lebenswandel dieser würdigen Männer. Sie forderte, dass die eigene Gerichtsbarkeit und die Steuerfreiheit der Pfaffen abgeschafft und die Zahl der Mönche überhaupt beschränkt werde.

Städtische Unterschichten

Die plebejische Opposition bestand aus den heruntergekommenen Bürgern und der Masse der städtischen Bewohner, die vom Bürgerrechte ausgeschlossen war: den Handwerksgesellen, den Taglöhnern und den zahlreichen Anfängen des Lumpenproletariats, die sich selbst auf den untergeordneten Stufen der städtischen Entwicklung vorfinden. Das Lumpenproletariat ist überhaupt eine Erscheinung, die, mehr oder weniger ausgebildet, in fast allen bisherigen Gesellschaftsphasen vorkommt. Die Menge von Leuten ohne bestimmten Erwerbszweig oder festen Wohnsitz wurde gerade damals sehr vermehrt durch das Zerfallen des Feudalismus in einer Gesellschaft, in der noch jeder Erwerbszweig, jede Lebenssphäre hinter einer Unzahl von Privilegien verschanzt war. In allen entwickelten Ländern war die Zahl der Vagabunden nie so groß gewesen wie in der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts. Ein Teil dieser Landstreicher trat in Kriegszeiten in die Armeen, ein anderer bettelte sich durchs Land, der dritte endlich suchte in den Städten durch Taglöhnerarbeit und was sonst gerade nicht zünftig war seine notdürftige Existenz. Alle drei spielen eine Rolle im Bauernkrieg: der erste in den Fürstenarmeen, denen die Bauern erlagen, der zweite in den Bauernverschwörungen und Bauernhaufen, wo sein demoralisierender Einfluss jeden Augenblick hervortritt, der dritte in den Kämpfen der städtischen Parteien. Es ist übrigens nicht zu vergessen, dass ein großer Teil dieser Klasse, namentlich der in den Städten lebende, damals noch einen bedeutenden Kern gesunder Bauernnatur besaß und noch lange nicht die Käuflichkeit und Verkommenheit des heutigen zivilisierten Lumpenproletariats entwickelt hatte.

Man sieht, die plebejische Opposition der damaligen Städte bestand aus sehr gemischten Elementen. Sie vereinigte die verkommenen Bestandteile der alten feudalen und zünftigen Gesellschaft mit dem noch unentwickelten, kaum emportauchenden proletarischen Element der aufkeimenden, modernen bürgerlichen Gesellschaft. Verarmte Zunftbürger, die noch durch das Privilegium mit der bestehenden bürgerlichen Ordnung zusammenhingen, auf der einen Seite; verstoßene Bauern und abgedankte Dienstleute, die noch nicht zu Proletariern werden konnten, auf der andern. Zwischen beiden die Gesellen, momentan außerhalb der offiziellen Gesellschaft stehend und sich in ihrer Lebenslage dem Proletariat so sehr nähernd, wie dies bei der damaligen Industrie und unter dem Zunftprivilegium möglich; aber, zu gleicher Zeit, fast lauter zukünftige bürgerliche Meister, kraft eben dieses Zunftprivilegiums. Die Parteistellung dieses Gemisches von Elementen war daher notwendig höchst unsicher und je nach der Lokalität verschieden. Vor dem Bauernkriege tritt die plebejische Opposition in den politischen Kämpfen nicht als Partei, sie tritt nur als turbulenter, plünderungssüchtiger, mit einigen Fässern Wein an- und abkäuflicher Schwanz der bürgerlichen Opposition auf. Erst die Aufstände der Bauern machen sie zur Partei, und auch da ist sie fast überall in ihren Forderungen und ihrem Auftreten abhängig von den Bauern – ein merkwürdiger Beweis, wie sehr damals die Stadt noch abhängig vom Lande war. Soweit sie selbstständig auftritt, verlangt sie die Herstellung der städtischen Gewerksmonopole auf dem Lande, will sie die städtischen Einkünfte nicht durch Abschaffung der Feudallasten im Weichbild geschmälert wissen und so weiter; kurz, so weit ist sie reaktionär, ordnet sie sich ihren eigenen kleinbürgerlichen Elementen unter und liefert damit ein charakteristisches Vorspiel zu der Tragikomödie, die die moderne Kleinbürgerschaft seit drei Jahren unter der Firma der Demokratie aufführt.

Nur in Thüringen unter dem direkten Einfluss Münzers und an einzelnen andern Orten unter dem seiner Schüler wurde die plebejische Fraktion der Städte von dem allgemeinen Sturm so weit fortgerissen, dass das embryonische proletarische Element in ihr momentan die Oberhand über alle andern Fraktionen der Bewegung bekam. Diese Episode, die den Kulminationspunkt des ganzen Bauernkriegs bildet und sich um seine großartigste Gestalt, um Thomas Münzer, gruppiert, ist zugleich die kürzeste. Es versteht sich, dass sie am schnellsten zusammenbrechen und dass sie zu gleicher Zeit ein vorzugsweise phantastisches Gepräge tragen, dass der Ausdruck ihrer Forderungen höchst unbestimmt bleiben muss; gerade sie fand am wenigsten festen Boden in den damaligen Verhältnissen.

Ganz unten: Die Bauern

Unter allen diesen Klassen, mit Ausnahme der letzten, stand die große exploitierte Masse der Nation: die Bauern. Auf dem Bauern lastete der ganze Schichtenbau der Gesellschaft: Fürsten, Beamte, Adel, Pfaffen, Patrizier und Bürger. Ob er der Angehörige eines Fürsten, eines Reichsfreiherrn, eines Bischofs, eines Klosters, einer Stadt war, er wurde überall wie eine Sache, wie ein Lasttier behandelt, und schlimmer. War er Leibeigner, so war er seinem Herrn auf Gnade und Ungnade zur Verfügung gestellt. War er Höriger, so waren schon die gesetzlichen, vertragsmäßigen Leistungen hinreichend, ihn zu erdrücken; aber diese Leistungen wurden täglich vermehrt. Den größten Teil seiner Zeit musste er auf den Gütern des Herrn arbeiten; von dem, was er sich in den wenigen freien Stunden erwarb, mussten Zehnten, Zins, Gült, Bede, Reisegeld (Kriegssteuer), Landessteuer und Reichssteuer gezahlt werden. Er konnte nicht heiraten und nicht sterben, ohne dass dem Herrn gezahlt wurde. Er musste, außer den regelmäßigen Frondiensten, für den gnädigen Herrn Streu sammeln, Erdbeeren sammeln, Heidelbeeren sammeln, Schneckenhäuser sammeln, das Wild zur Jagd treiben, Holz hacken und so weiter. Fischerei und Jagd gehörten dem Herrn, der Bauer musste ruhig zusehen, wenn das Wild seine Ernte zerstörte. Die Gemeindeweiden und Waldungen der Bauern waren fast überall gewaltsam von den Herren weggenommen worden. Und wie über das Eigentum, so schaltete der Herr willkürlich über die Person des Bauern, über die seiner Frau und seiner Töchter. Er hatte das Recht der ersten Nacht. Er warf ihn in den Turm, wenn‘s ihm beliebte, wo ihn mit derselben Sicherheit, wie jetzt der Untersuchungsrichter, damals die Folter erwartete. Er schlug ihn tot oder ließ ihn köpfen, wenn‘s ihm beliebte. Von jenen erbaulichen Kapiteln der Carolina, die da „von Ohrenabschneiden“, „von Nasenabschneiden“, „von Augenausstechen“, „von Abhacken der Finger und der Hände“, „von Köpfen“, „von Rädern“, „von Verbrennen“ „von Zwicken mit glühenden Zangen“ „von Vierteilen“ und so weiter handeln, ist kein einziges, das der gnädige Leib- oder Schirmherr nicht nach Belieben gegen seine Bauern angewandt hätte. Wer sollte ihn schützen? In den Gerichten saßen Barone, Pfaffen, Pa­trizier oder Juristen, die wohl wussten, wofür sie bezahlt wurden. Alle offiziellen Stände des Reichs lebten ja von der Aussaugung der Bauern.

Einwohnerzahlen deutscher Städte um 1500
(Schätzwerte)
Köln: 45.000
Nürnberg: 38.000
Augsburg: 30.000
Magdeburg: 30.000
Lübeck: 25.000
Regensburg: 22.000
Ulm: 18.000
Frankfurt am Main: 10.000
Mühlhausen: 8.000
Wittenberg: 3.500

Die Bauern, knirschend unter dem furchtbaren Druck, waren dennoch schwer zum Aufstand zu bringen. Ihre Zersplitterung erschwerte jede gemeinsame Übereinkunft im höchsten Grade. Die lange Gewohnheit der von Geschlecht zu Geschlecht fortgepflanzten Unterwerfung, die Entwöhnung vom Gebrauch der Waffen in vielen Gegenden, die je nach der Persönlichkeit der Herren bald ab-, bald zunehmende Härte der Ausbeutung trug dazu bei, die Bauern ruhig zu erhalten. Wir finden daher im Mittelalter Lokalinsurrektionen der Bauern in Menge, aber – wenigstens in Deutschland – vor dem Bauernkrieg keinen einzigen allgemeinen, nationalen Bauernaufstand. Dazu waren die Bauern allein nicht imstande, eine Revolution zu machen, solange ihnen die organisierte Macht der Fürsten, des Adels und der Städte verbündet und geschlossen entgegenstand. Nur durch eine Allianz mit andern Ständen konnten sie eine Chance des Sieges bekommen; aber wie sollten sie sich mit andern Ständen verbinden, da sie von allen gleichmäßig ausgebeutet wurden?

Verwirrte Interessen

Wir sehen, die verschiedenen Stände des Reichs: Fürsten, Adel, Prälaten, Patrizier, Bürger, Plebejer und Bauern bildeten im Anfang des sechzehnten Jahrhunderts eine höchst verworrene Masse mit den verschiedenartigsten, sich nach allen Richtungen durchkreuzenden Bedürfnissen. Jeder Stand war dem andern im Wege, lag mit allen andern in einem fortgesetzten, bald offnen, bald versteckten Kampf. Jene Spaltung der ganzen Nation in zwei große Lager, wie sie beim Ausbruch der ersten Revolution in Frankreich bestand, wie sie jetzt auf einer höheren Entwicklungsstufe in den fortgeschrittensten Ländern besteht, war unter diesen Umständen rein unmöglich; sie konnte selbst annähernd nur dann zustande kommen, wenn die untersten, von allen übrigen Ständen exploitierten Schichten der Nation sich erhoben: die Bauern und die Plebejer. Man wird die Verwirrung der Interessen, Ansichten und Bestrebungen jener Zeit leicht begreifen, wenn man sich erinnert, welche Konfusion in den letzten zwei Jahren die jetzige, weit weniger komplizierte Zusammensetzung der deutschen Nation aus Feudaladel, Bourgeoisie, Kleinbürgerschaft, Bauern und Proletariat hervorgebracht hat.

421202 1 - Auf den Schultern der Bauern - 500 Jahre Bauernkrieg, Deutscher Bauernkrieg, Friedrich Engels - Hintergrund
Die falschen und die wahren Apostel Christi, Holzschnitt von Hans Sebald Beham, Anfang des 16. Jahrhunderts

Ideologische ­Einigung

Die Gruppierung der damals so mannigfaltigen Stände zu größeren Ganzen wurde schon durch die Dezentralisation und die lokale und provinzielle Selbstständigkeit, durch die industrielle und kommerzielle Entfremdung der Provinzen voneinander, durch die schlechten Kommunikationen fast unmöglich gemacht. Diese Gruppierung bildet sich erst heraus mit der allgemeinen Verbreitung revolutionärer religiös-politischer Ideen in der Reformation. Die verschiedenen Stände, die sich diesen Ideen anschließen oder entgegenstellen, konzentrieren, freilich nur sehr mühsam und annähernd, die Nation in drei große Lager, in das katholische oder reaktionäre, das lutherische bürgerlich-reformierende und das revolutionäre. Wenn wir auch in dieser großen Zerklüftung der Nation wenig Konsequenz entdecken, wenn wir in den ersten beiden Lagern zum Teil dieselben Elemente finden, so erklärt sich dies aus dem Zustand der Auflösung, in dem sich die meisten, aus dem Mittelalter überlieferten offiziellen Stände befanden, und aus der Dezentralisation, die denselben Ständen an verschiedenen Orten momentan entgegengesetzte Richtungen anwies. Wir haben in den letzten Jahren so häufig ganz ähnliche Fakta in Deutschland zu sehen Gelegenheit gehabt, dass uns eine solche scheinbare Durcheinanderwürfelung der Stände und Klassen unter den viel verwickelteren Verhältnissen des 16. Jahrhunderts nicht wundern kann.

Die deutsche Ideologie sieht, trotz der neuesten Erfahrungen, in den Kämpfen, denen das Mittelalter erlag, noch immer weiter nichts als heftige theologische Zänkereien. Hätten die Leute jener Zeit sich nur über die himmlischen Dinge verständigen können, so wäre, nach der Ansicht unsrer vaterländischen Geschichtskenner und Staatsweisen, gar kein Grund vorhanden gewesen, über die Dinge dieser Welt zu streiten. Diese Ideologen sind leichtgläubig genug, alle Illusionen für bare Münze zu nehmen, die sich eine Epoche über sich selbst macht oder die die Ideologen einer Zeit sich über diese Zeit machen. Dieselbe Klasse von Leuten sieht zum Beispiel in der Revolution von 1789 nur eine etwas hitzige Debatte über die Vorzüge der konstitutionellen vor der absoluten Monarchie, in der Julirevolution (1830) eine praktische Kontroverse über die Unhaltbarkeit des Rechts „von Gottes Gnaden“, in der Februarrevolution (1848) den Versuch zur Lösung der Frage „Republik oder Monarchie?“ und so weiter. Von den Klassenkämpfen, die in diesen Erschütterungen ausgefochten werden und deren bloßer Ausdruck die jedesmal auf die Fahne geschriebene politische Phrase ist, von diesen Klassenkämpfen haben selbst heute noch unsre Ideologen kaum eine Ahnung, obwohl die Kunde davon vernehmlich genug nicht nur vom Auslande herüber, sondern auch aus dem Murren und Grollen vieler tausend einheimischen Proletarier herauf erschallt.

Auf dem Bauern lastete der ganze Schichtenbau der Gesellschaft: Fürsten, Beamte, Adel, Pfaffen, Patrizier und Bürger. Ob er der Angehörige eines Fürsten, eines Reichsfreiherrn, eines Bischofs, eines Klosters, einer Stadt war, er wurde überall wie eine Sache, wie ein Lasttier behandelt, und schlimmer.

Auch in den sogenannten Religionskriegen des sechzehnten Jahrhunderts handelte es sich vor allem um sehr positive materielle Klasseninteressen, und diese Kriege waren Klassenkämpfe, ebensogut wie die späteren inneren Kollisionen in England und Frankreich. Wenn diese Klassenkämpfe damals religiöse Schibboleths trugen, wenn die Interessen, Bedürfnisse und Forderungen der einzelnen Klassen sich unter einer religiösen Decke verbargen, so ändert dies nichts an der Sache und erklärt sich leicht aus den Zeitverhältnissen.

Das Mittelalter hatte sich ganz aus dem Rohen entwickelt. Über die alte Zivilisation, die alte Philosophie, Politik und Jurisprudenz hatte es reinen Tisch gemacht, um in allem wieder von vorn anzufangen. Das einzige, das es aus der untergegangenen alten Welt übernommen hatte, war das Christentum und eine Anzahl halbzerstörter, ihrer ganzen Zivilisation entkleideter Städte. Die Folge davon war, dass, wie auf allen ursprünglichen Entwicklungsstufen, die Pfaffen das Monopol der intellektuellen Bildung erhielten und damit die Bildung selbst einen wesentlich theologischen Charakter bekam. Unter den Händen der Pfaffen blieben Politik und Jurisprudenz, wie alle übrigen Wissenschaften, bloße Zweige der Theologie und wurden nach denselben Prinzipien behandelt, die in dieser Geltung hatten. Die Dogmen der Kirche waren zu gleicher Zeit politische Axiome, und Bibelstellen hatten in jedem Gerichtshof Gesetzeskraft. Selbst als ein eigner Juristenstand sich bildete, blieb die Jurisprudenz noch lange unter der Vormundschaft der Theologie. Und diese Oberherrlichkeit der Theologie auf dem ganzen Gebiet der intellektuellen Tätigkeit war zugleich die notwendige Folge von der Stellung der Kirche als der allgemeinsten Zusammenfassung und Sanktion der bestehenden Feudalherrschaft.

Es ist klar, dass hiermit alle allgemein ausgesprochenen Angriffe auf den Feudalismus, vor allem Angriffe auf die Kirche, alle revolutionären, gesellschaftlichen und politischen Doktrinen zugleich und vorwiegend theologische Ketzereien sein mussten. Damit die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse angetastet werden konnten, musste ihnen der Heiligenschein abgestreift werden.

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"Auf den Schultern der Bauern", UZ vom 18. Oktober 2024



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