Bilder sind wirkmächtig, mehr als viele Worte. Bilder von Menschen, die mit Steinen auf in der Hand auf Panzer losgehen. Das Bild eines Mannes, der sich aus Protest selbst verbrennt. Wir alle kennen solche Bilder, aus vielen Ländern. Was sich als Reaktion, als Aufwallung einstellt, ist die Sympathie für diejenigen, die ohnmächtig gegen den zum Symbol der Macht gewordenen Panzer anrennen.
Solche Bilder aus Prag oder Bratislava im August 1968 sehen wir in diesen Tagen in den Medien wieder. Sie suggerieren uns. Hier wird ein Volk geknechtet. Dazu eine Parole, die in einer weitgehend orientierungslosen Linken griff: Sozialismus mit menschlichem Antlitz.
Ein Satz, den man sich auch heute immer wieder in Erinnerung rufen muss: In einer Welt, die zum größten Teil vom Kapitalismus beherrscht ist, spielen die Regierungen und die führenden Parteien sozialistischer Länder nicht nur nach eigenen Regeln, was ihren Aufbau und auf jeder neuen Stufe ihrer Entwicklung notwendige Reformen betrifft. Das galt zu Zeiten des kalten Krieges und heute vielleicht noch mehr. Kritik aus der Rückschau über 50 Jahre ist daher in der Gefahr, oberflächlich und besserwisserisch zu sein. Aber was wäre das für ein Klassenfeind, der nicht an den Fehlern der Revolutionäre anknüpft? Er wäre keiner.
Viel Unmut über die regierende Kommunistische Partei der Tschechoslowakei hatte sich in der CSSR aufgehäuft – das zweite „S“ für „Sozialistische“ war 1960 in den Namen der Republik aufgenommen worden. Da ging es um die Nationalitätenpolitik, um Mängel in der Versorgung der Bevölkerung, um die Höhe der Löhne und der Renten und um den Mangel an Wohnungen. Vor allem unter Intellektuellen und Studierenden bildeten sich Oppositionsstrukturen mit guten Kontakten in den Westen heraus, sie verlangten nach mehr „Freiheit“ und meinten damit bürgerliche Freiheiten. Die Führung der KPTsch unter Antonin Novotný war weder in der Lage die notwendigen Schritte zu tun, um bitter notwendige Reformen einzuleiten, noch fand sie die Worte, um den Massen ihre Politik zu erklären.
Am 2. Januar 1968 wurde Novotný von Alexander Dubcek als Erster Sekretär der Partei abgelöst. Dubcek galt als Hoffnungsträger, als Erster Sekretär der KP der slowakischen Teilrepublik hatte er sich Popularität und einen Ruf als Reformer erworben. Er stand unter dem Einfluss von Intellektuellen wie Ota Šik, dem Architekten eines „Neuen Ökonomischen Modells“, und Eduard Goldstücker, dem Präsidenten des Schriftstellerverbandes mit besten Verbindungen in den Westen seit seiner Zeit als Diplomat. Dubcek beförderte Šik schon im April zum Stellvertretenden Ministerpräsidenten und Koordinator der Wirtschaftsreformen, also in Schlüsselpositionen.
Und plötzlich herrschte Meinungsfreiheit. Hundert Blumen blühten und darunter nicht wenige antisowjetische Sumpfblüten. Das hieß, dass die kleine Gruppe, die jetzt den Meinungsapparat beherrschte, die Definitionsmacht hatte darüber, was Freiheit sei, was Sozialismus, was Demokratie. Allen voran lief diese Propaganda über die Parteizeitung „Rudé Právo“ und die offizielle Nachrichtenagentur Ceteka. Die Meinungsfreiheit galt nur nicht für Kommunisten, die die Sebstetikettierung als „Reformkommunisten“ ablehnten – sie hießen plötzlich in allen Veröffentlichungen „Reaktionäre“, „Orthodoxe“ oder „Stalinisten“. Viele Menschen mit idealen Vorstellungen und den besten Absichten ließen sich von der Propaganda einfangen.
Zeitschriften wie „Mlada Fronta“ und „Literární Listy“ propagierten den außenpolitischen Frontwechsel. Offen wurde für das Land eine neutrale Rolle nach dem Beispiel der Schweiz gefordert, besonders „Mutige“ preschten vor und forderten gar den Anschluss der CSSR an die Nato. Das hätte die Systemgrenze in Europa direkt an sowjetisches Territorium herangeführt. In dieser Situation reagierte die Bundeswehrführung mit der Ankündigung des Großmanövers „Schwarzer Löwe“ in Bayern, in unmittelbarer Nähe der tschechischen Grenze. Eine verräterische Benennung – die CSSR führte den weißen Löwen im Staatswappen. Die Medien in der Bundesrepublik und den anderen imperialistischen Staaten überschlugen sich in Begeisterung für den „demokratischen Sozialismus“ und sparten ebensowenig wie die sozialdemokratischen Parteien Westeuropas nicht mit guten Ratschlägen für die „Reformer“. Die Führungen der anderen sozialistischen Staaaten ermahnten die Staats- und Parteiführung der CSSR mehrfach, mit Rücksicht auf die strategischen Folgen der konterrevolutionären Welle Einhalt zu gebieten. Möglicherweise waren diese aber dazu gar nicht mehr in der Lage, das Heft des Handelns hatten längst andere in der Hand.
Auf einem illegal einberufenen Parteitag der KPTsch – ohne die slowakischen Delegierten – wurde die formale Machtübernahme vorbereitet. Klaus Kukuk schrieb vor zehn Jahren in der UZ: „Das Zivilschutzsystem in Prag war durch sie für konspirative Zwecke aktiviert worden. Standorte für illegale konspirative Fernseh- und Rundfunksender waren vorbereitet und mit der erforderlichen Sendetechnik ausgestattet. Es waren schwarze Listen für Verhaftungen und entsprechende Lagerunterbringung vorbereitet worden.“
Dem endgültigen Sieg der Konterrevolution in der CSSR schob die Intervention der Warschauer-Pakt-Staaten am 21. August 1968 einen Riegel vor.
Die Maßnahme führte zu einem Riss in der kommunistischen Weltbewegung, der nie mehr ganz gekittet wurde. In der Bundesrepublik spaltete sie die Außerparlamentarische Opposition. Waren die USA durch ihren völkermörderischen Krieg in Vietnam diskreditiert, so gab die Intervention in der Tschechoslowakei der Totalitarismusdoktrin Auftrieb. Nicht nur die „schicke Linke“, die unter dem gerahmten Rosa-Luxemburg-Poster Mao zitierte und über „dritte Wege“ sinnierte, wandte sich vom sozialistischen Lager ab. Ein Text des Dichtersängers Franz Josef Degenhardt, damals SPD-Mitglied, mit dem Titel „Zu Prag“ spiegelt die Haltung vieler ehrlicher Linker in dieser Zeit: „Nein, wir hören genau hin. Die sagen ‚das goldene Prag‘. Und wenn die Gold sagen, meinen die Gold, die Herren, die den Vorfall in der Schweinebucht peinlich, den Vorfall in Santo Domingo gelungen, den Vorfall in Griechenland überhaupt nicht benennen. Nein, mit diesen Herren … teilen wir nicht unsere Wut über den Sieg der Panzer zu Prag.“ Zehn Jahre später trat Degenhardt der DKP bei.
Legenden über den „Prager Frühling“ und den „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ halten sich bis heute. Dabei hat Ota Šik in einem Interview mit der Zeitschrift „Mladá Fronta“ im August 1990 die Ziele der „Reformer“ deutlich benannt: „Sehen Sie, wir konnten damals nicht all unsere Ziele voll präsentieren … Also war auch der ‚Dritte Weg‘ ein Verschleierungsmanöver. Schon damals war ich davon überzeugt, dass die einzige Lösung für uns ein vollblütiger Markt kapitalistischer Art ist.“