EU stellt Souveränität der Mitgliedstaaten in Frage

Auf Befehl: Grenzen dicht!

Von Aitak Barani

Tempo, Tempo, heißt es bei der Bundesregierung im Umgang mit geflüchteten Menschen: schärfere Grenzabwehr, Internierung, Lagersysteme, zentralisierte Entscheidungen der EU, beschleunigte Verfahren, nötigenfalls Eingriff gegen den Willen der Regierungen der EU-Mitgliedstaaten.

Die EU-Kommission hat es nun auf den Tisch gelegt: die Grenzabwehr, „eine Grenzschutz-Polizei“, wie sie Merkel nannte, soll bis Juni 2016 gestärkt und nötigenfalls auch gegen den Willen der betroffenen Staaten zum Einsatz kommen. Der so genannte gemeinsame Grenz- und Küstenschutz der EU soll 1 000 feste Mitarbeiter und 1 500 Reservemitarbeiter umfassen. Diese Reserve werde im Notfall und innerhalb von drei Tagen abrufbar sein. Die Entscheidung, wann dieser Grenzschutz zum Einsatz komme, liege dann nicht nur bei dem jeweiligen EU-Mitgliedstaat, sondern kann auch gegen den Willen der Staaten getroffen werden. Verhaltene Kritik kam hierzu von einzelnen Staaten wie Litauen und Polen: Es drohe ein Eingriff in nationale Souveränitätsrechte, wird befürchtet. Trotzdem wurde der Beschluss durchgepeitscht. Die Gipfelteilnehmer waren sich einig, dass die seit Sommer diesen Jahres außer Kontrolle geratene Grenzsituation alsbald ein Ende finden müsse. Noch unter der niederländischen Ratspräsidentschaft, die von Januar bis Juni 2016 andauern wird, soll es, wenn es nach Vorstellung der deutschen Regierung geht, durch Rat und Parlament entschieden und entsprechend schnell umgesetzt werden.

Es liegt auf der Hand: Die EU muss im Sinne der Fluchtverursacher funktionieren, sonst wird die Daumenschraube angelegt. Im besten Falle sollen es die Geflüchteten erst gar nicht über die Grenze schaffen. Also wie jetzt beschlossen: Festhalten in großen Lagern in der Türkei, Abwehr an den Grenzen. Schaffen es Menschen doch, die Grenzen zu überwinden, dann Internierung in Lagern, schnelle Registrierung (auch hier mit Eingriff durch EU-Kräfte) und Entscheidungen vor Ort über „Bleibeperspektiven“. Diese sogenannten „Hotspots“ existieren bereits in Griechenland und Italien und sollen die „Dublin III-Regeln“ wieder in Kraft setzen. Wer nach der Sortierung bleiben darf, soll auf EU-Länder durch einen fest gelegten Schlüssel verteilt werden. Schon Ende August bei der Sommerpressekonferenz kündigte Angela Merkel das alles an: „Ich möchte jetzt sozusagen nicht alle Folterinstrumente nach außen zeigen; wir wollen kameradschaftlich zu einer Lösung kommen.“ Nun wird im rasenden Tempo auf EU-Ebene und im Inland eine Entscheidung nach der anderen durchgesetzt, wenn es sein muss, trotz Zweifel und gegen den Widerstand anderer EU-Länder. Wenn es aber denn nicht einmütig und kameradschaftlich zugeht, dann mit Mehrheitsentscheidungen, so ist es eben, verkündet Merkel. Ob sie schon Folterinstrumente auspacken muss, ist noch nicht entschieden. Zu diesem Inventar an Instrumenten für die anderen EU-Staaten gehört jedenfalls Schengen, also der freie Verkehr von Kapital, Arbeitskraft und Waren. Diesen einzuschränken, wäre eine Möglichkeit unwillige Länder unter Druck zu setzen. Aber es gäbe auch andere Möglichkeiten. Gegen die Aufnahme von geflüchteten Menschen wehren sich ja bekanntlich einige, vor allem osteuropäische Staaten. Ungarn und die Slowakei haben sogar eine Klage beim Europäischen Gerichtshof eingereicht.

Es steht fest: im ersten Halbjahr 2016 werden massive Angriffe auf flüchtende Menschen geplant und höchstwahrscheinlich auch umgesetzt. Es fehlt an ernstzunehmenden Widerstand. Das Recht auf Asyl wird nicht mehr als allgemeines Menschenrecht anerkannt. In der gesellschaftlichen Wahrnehmung ist der Flüchtlingsschutz zu einem Sonderrecht degradiert. Dass aber Millionen von Menschen das Recht auf das reine Überleben nicht mehr selbstverständlich zuerkannt wird, heißt nichts anderes als dass Menschenleben selbst degradiert werden auf ein nicht mehr zu schützendes Gut. Die aktuellen Pläne der Bundesregierung sind ihrem Wesen nach nicht neu. Abschiebungen, Internierung, Residenzpflicht, militarisierte Flüchtlingsabwehr gehören seit Jahren schon zum Repertoire der Regierenden. Was neu ist, ist die erhöhte Bereitschaft der Bevölkerung, diese Frage überhaupt wahrzunehmen. Ob sie als eine das eigene Leben betreffende Frage begriffen wird, hängt davon ab, ob sie als Klassenfrage verstanden wird.

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"Auf Befehl: Grenzen dicht!", UZ vom 25. Dezember 2015



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