Die Bundesregierung hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, um Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern. Die „Frankfurter Allgemeine“ befürchtet sogleich, mit dem „Banner des Kindeswohls“ zöge eine „kräftige Prise DDR“ ins Grundgesetz. Tatsächlich sorgte sich schon die erste Verfassung der DDR von 1949 in vielen Regelungen um das Wohl und den Schutz der Kinder. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung hat damit allerdings so wenig zu tun wie mit den Vorgaben der UNO-Kinderrechtskonvention (UN-KRK).
Das Aktionsbündnis Kinderrechte (Kinderhilfswerk, Kinderschutzbund und UNICEF Deutschland) fordert seit 1994 die Einlösung des Versprechens, das die Bundesrepublik 1992 mit dem Beitritt zur UN-KRK gegeben hatte. Die Rechte der Kinder auf sozialen Schutz, Gesundheit, Bildung, rechtliches Gehör und das Verbot der Diskriminierung sollten durch die unterzeichnenden Staaten verfassungsrechtlich bindend verankert werden. 25 Jahre verstrichen, bis CDU und SPD im Koalitionsvertrag vereinbarten, hierzu das Grundgesetz zu ändern. Nach weiteren drei Jahren liegt der Text nun auf dem Tisch. Artikel 6 GG, in dem das Verhältnis zwischen Eltern, Kindern und Staat geregelt ist, soll um einen Absatz erweitert werden: „Die verfassungsmäßigen Rechte der Kinder einschließlich ihres Rechts auf Entwicklung zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten sind zu achten und zu schützen. Das Wohl des Kindes ist angemessen zu berücksichtigen. Der verfassungsrechtliche Anspruch von Kindern auf rechtliches Gehör ist zu wahren. Die Erstverantwortung der Eltern bleibt unberührt.“
Der nun entfachte Streit geht um das Wort „angemessen“. In Artikel 3 der UN-KRK soll bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, das Kindeswohl „vorrangig“ gelten – sprich: den Ausschlag geben. Die bloß „angemessene Berücksichtigung“ bedeutet hingegen, das Kindeswohl ist ein Abwägungsgesichtspunkt unter vielen. Die bloße Angemessenheit hat gerade dann Bedeutung, wenn es um Maßnahmen zum Schutz des Kindeswohls geht, die Geld kosten. Bei knappen Haushalten (vor allem im Bereich der Sozialfürsorge) begrenzt der Grad vorhandener Steuermittel das Kindeswohl. Am Status quo ändert sich damit nichts.
Das ist dramatisch, denn das Gesetzesvorhaben fällt in eine Zeit, in der jedes fünfte Kind in Deutschland in Armut lebt, Unterrichtsausfall die Regel ist und die Schulverpflegung gestrichen wurde. Eine Situation, in der die Krise für Kinder in Familien mit geringem Einkommen den Zugang zur schulischen Bildung umso schwieriger macht, als das Geld zur Anschaffung von Geräten und Materialien für den digitalen Unterricht bei Kurzarbeit und drohender Arbeitslosigkeit schlichtweg nicht aufgebracht werden kann.
Auch der im Entwurf genannte Anspruch auf rechtliches Gehör ist nicht mehr als ein Gemeinplatz. Eine kinderspezifische Ausformulierung des ohnehin heute geltenden rechtlichen Gehörs in Artikel 103 Absatz 2 GG fehlt. Es geht nämlich nicht nur darum, dass sich ein Kind überhaupt zu Maßnahmen äußert, sondern um die alters- und reifegemäße Gewichtung seiner Äußerung.
Heraus kommt ein gesetzgeberisches Armutszeugnis, für das die Bundesrepublik fast 30 Jahre hat verstreichen lassen. Der Präsident des Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers, nennt den Entwurf daher „reine Symbolpolitik“; die Bundestagsfraktion der Partei „Die Linke“ hat bereits angekündigt, dem Entwurf die Zustimmung zu versagen, da sein Inhalt nur die schon heute an den Rand gedrängten Rechte der Kinder nun auch noch zum Bestandteil der Verfassung machen solle. Ob also die inhaltslose Grundgesetzänderung die Zweidrittelmehrheit im Bundestag findet oder nicht: Es bleibt alles beim Alten.