Niedriglohn treibt die Beschäftigten in die Altersarmut

Armutslöhne abschaffen

Drei Millionen Menschen haben neben einem regulären Job noch eine geringfügige Beschäftigung, weil der Lohn nicht reicht. Der Niedriglohnsektor boomt. Darüber und über die notwendige Gegenwehr der Gewerkschaften sprach die UZ mit Ortwin Bickhove-Swiderski, Vorsitzender des DGB-Kreisverbandes Coesfeld.

UZ: Der DGB in der Region Münsterland ist alarmiert durch eine aktuelle regionale Auswertung des Arbeitsmarktes durch die Agentur für Arbeit im Hinblick auf Niedriglohn. Was ist daran für den DGB besonders brisant?

Ortwin Bickhove-Swiderski: Für den DGB Kreis Münsterland haben wir eine Auswertung durchgeführt. Im Kreis Coesfeld arbeiten 8.792 Personen, und das ist leider jeder fünfte Vollzeitbeschäftigte, im Niedriglohnsektor. Niedriglohn bedeutet Einkommen, die unterhalb von 2.200 Euro liegen. Und wir haben uns noch einmal geschlechterspezifisch eine Auswertung angeguckt, und da ist auch nicht verwunderlich, dass mehr als 70 Prozent der Betroffenen weiblich sind.

UZ: Minijobs machen ja einen großen Bereich dieses Niedriglohnsektors aus. Welchen Handlungsbedarf seht ihr hinsichtlich dieser Minijobs?

Ortwin Bickhove-Swiderski: Wenn man es gesellschaftspolitisch und arbeitsmarktpolitisch betrachtet, müssen prekäre Beschäftigungsverhältnisse und auch Minijobs komplett abgeschafft werden und man muss Alternativen im ersten Arbeitsmarkt anbieten.

UZ: Die Schaffung eines Niedriglohnsektors war ja das Ziel der Hartz-Gesetzgebung durch die damalige SPD/Grün-geführte Bundesregierung. Welche Auswirkungen hat dieser Niedriglohnsektor heute?

Ortwin Bickhove-Swiderski: Das war eine fatale Entscheidung, die damals herbeigeführt worden ist, und man kann das sehr konkret machen. Vereinfacht gesagt, eine Verkäuferin, nach 45 Jahren vollschichtig beschäftigt, landet heute bei einer Rente von 749 Euro brutto. Also müsste sie noch eine Aufstockung erhalten. Es gibt aber keine Verkäuferin, die 45 Jahre mit einer vollen Stelle durchgearbeitet hat. Da kommen zum Beispiel Zeiten der Kindererziehung, pflegebedürftige Angehörige und anderes hinzu. Man hat genau genommen durch die damalige Beschlussfassung das ganze Problem um 30 Jahre nach hinten verschoben und treibt praktisch die Betroffenen in die Altersarmut. Und diese schämen sich dann, zum Sozialamt zu gehen und den Aufstockerbetrag einzufordern.

UZ: Haben denn grundsätzlich die deutschen Gewerkschaften das nötige Problembewusstsein und auch eine Strategie, diesen Niedriglohnsektor wieder zurückzudrängen?

Ortwin Bickhove-Swiderski: Ob die Gewerkschaften damals einen Fehler gemacht haben? Historisch hängen ja die deutschen Gewerkschaften sehr eng mit der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands zusammen, und ich glaube, da hat es bei Vielen ein Umdenken gegeben. Gewerkschaften sollten Gewerkschaftspolitik machen, und die Strategie unserer Gewerkschaften kann nur bedeuten, die Rente mit 67 wieder zurückzudrängen. Denn auch damit kommt mehr Altersarmut. Und vor allem muss der Arbeitsmarkt von aller prekärer Arbeit bereinigt werden.

Ebenso müssen die Rentenkonten entlastet werden. Da werden nämlich rentenfremde Leistungen, zum Beispiel bei Sterilisationen, bei Schwanger- und Mutterschaft, Leistungen der Prävention und Gesundheitsförderung und weitere, aus diesen Kassen bezahlt.

Wenn man dann das Argument hört, es ist kein Geld da, dann stimmt das auch nicht. Der Rüstungsetat ist um zwei Prozent ausgedehnt worden, dieses Geld könnte man ohne Probleme in die Rentenkassen hineinstecken. Es müsste aus meiner Sicht eine völlige Umstrukturierung in Bezug auf Rente erfolgen, auch abgestuft nach Berufsbildern. Es ist auch keinem Dachdecker oder Fliesenleger zuzumuten, bis 67 zu arbeiten. Da müssen auch von unserer Seite andere Tarifverträge erfolgen. Also insoweit muss da ein vollständiges Umkrempeln am Arbeitsmarkt in der Sozialpolitik erfolgen.

Schlimmer geht immer: DGB-Demo am 1. Mai 2019 in Berlin
Schlimmer geht immer: DGB-Demo am 1. Mai 2019 in Berlin (Foto: Uwe Hiksch/flickr)

UZ: Wir erleben in diesen Tagen in Frankreich, wie kraftvoll sich die Gewerkschaften, unterstützt von einem großen Teil der Bevölkerung, gegen die Rentenkürzungsprogramme der Regierung zur Wehr setzen. Woran liegt das eigentlich, dass die deutschen Gewerkschaften ihre Kraft nicht zum Einsatz bringen?

Ortwin Bickhove-Swiderski: Bei der Frage kann man sogar noch tiefer gehen. Ich muss ehrlich gestehen, mir war bis vor ein paar Tagen auch nicht bekannt, dass zum Beispiel die streikenden französischen Arbeitnehmer kein Streikgeld erhalten, sondern sie zahlen diese Auseinandersetzung aus eigener Tasche. Sie kriegen eine ganz minimale Unterstützung, und insoweit kann das nur ein Vorbild für deutsche Gewerkschaften sein, dass man hier für ein besseres Klassenbewusstsein und für mehr Klassenauseinandersetzungen sorgt.

Dazu müssen wir die politische Bildung in den Gewerkschaften intensivieren, die rückläufig ist bei den Gewerkschaften. Und am Ende muss aus meiner Sicht ein klassenbewusster Arbeitnehmer stehen, der aber auch von einer starken Gewerkschaftsorganisation in solche Auseinandersetzungen geführt wird. Und wir als DGB sind mit sechs Millionen die größte gesellschaftspolitische Organisation. Wir müssen mit anderen Sozialverbänden und mit anderen Parteien, mit kritischen Personen gemeinsam hier einen Widerstand organisieren und beispielsweise für unsere Kampagne „Umfairteilen“ werben.

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"Armutslöhne abschaffen", UZ vom 31. Januar 2020



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