Armut schöngerechnet

Werner Altmann zum neuen Gesundheitsminister

Wer sich bei der Ernennung von Jens Spahn zum Gesundheitsminister gefragt hat: „Warum eigentlich?“, der weiß es inzwischen. Es wurde mal wieder jemand gebraucht, der so ganz nebenbei eine Hartz-IV-Sau durchs Dorf treibt: Wer Hartz IV bezieht, ist nicht arm. Sagt Jens Spahn.

Wer kann das besser als ein sogenannter Kritiker der Merkel-Politik, weil ja bekanntlich Frau Merkel fest an der Seite der Hartz-IV-Bezieher steht. Aber es besteht noch Hoffnung.

Wenn Herr Spahn als Dienstherr ins Gesundheitsministerium einzieht, kann er sich als erste Amtshandlung die Statistiken zeigen lassen, die konkret belegen, dass Hartz-IV-Bezieher häufiger krank sind und auch früher sterben. Dazu kann er sich die entsprechenden Studien, auch aus seinem Ministerium, ansehen, die nach wissenschaftlicher Auswertung statistischer Daten und Befragung von Betroffenen zu dem Ergebnis gekommen sind, dass es die Armut ist, die zu genannten Symptomen führt. Und vielleicht klärt ja einer der Staatssekretäre im Ministerium den Minister dahingehend auf, dass nach gesamteuropäischer Definition jemand, der weniger als 60 Prozent des Nettoäquivalenzeinkommens erzielt, als armutsgefährdet gilt und bei weniger als 50 Prozent arm ist.

Aber ich fürchte, das wird wenig nützen, da Herr Spahn nicht nur eine Überzeugung, sondern auch einen Auftrag hat. Und der lautet, die Deutungshoheit über die Armutsdefinition zu erlangen, obwohl er dafür nicht zuständig ist.

Zuständig ist das Ministerium für Arbeit und Soziales in Zusammenarbeit mit den Statistikern und den Sozialwissenschaftlern; nur diese Zusammenarbeit hat schon bei den zwei gewesenen Grokos nicht funktioniert, was nicht die Schuld der Statistiker und Wissenschaftler war. Hätte sie funktioniert, wäre vielleicht deutlich geworden, dass der Regelbedarf bei Einhaltung der eigenen Kriterien ca. 60 bis 80 Euro höher ausfallen müsste. Und dann wäre vielleicht noch herausgekommen, dass das genutzte Statistikmodell eigentlich gar nicht so gut geeignet ist. Weil die dem Statistikmodell zugrundeliegende Einkommens- und Verbrauchsstichprobe zwar das Einkaufsverhalten der 15 Prozent, die am unteren Ende der Einkommensskala liegen abbildet, nicht aber ihren tatsächlichen Bedarf beschreibt.

Hinzu kommt, dass bei der Berechnung, ausgehend von den unteren 23 Prozent, ca. 8 Prozent Hartz-IV-Haushalte herausgerechnet werden. Damit haben wir die unteren 15 Prozent, die laut Ministerium zur korrekten Berechnung des Regelbedarfs ausreichen. In diesen 15 Prozent sind aber auch die Haushalte enthalten, die zwar einen Anspruch auf Hartz IV haben, aber keine Leistung in Anspruch nehmen. Der sogenannte Zirkelschluss, der eigentlich vermieden werden sollte, ist somit Bestandteil des Modells. Bezogen auf die so gewonnenen Daten werden Bereiche gebildet, die unterschiedlich gewertet werden und nur reduziert in den Regelbedarf eingehen. Die Lebensmittel sollen angeblich ungekürzt berücksichtigt werden, andere Bereiche sind so stark reduziert, dass am Schluss die Zielzahl von 70 Prozent erreicht wird. Mit Bedarfsdeckung hat das nichts zu tun.

Näher dran am Bedarf ist der Warenkorb. Hier wird alles in den Korb gepackt, was als Bedarf des täglichen Lebens, das sich nicht wesentlich von Nichtbeziehern unterscheiden soll, anerkannt wird. Wissenschaftler sprechen von einem nach Warenkorbmodell errechneten Bedarf von 650 bis 680 Euro im Monat, also mehr als 250 Euro mehr als zur Zeit. Und wenn dann noch die Kosten der Mobilität extra gezahlt und die Stromkosten in die Kosten der Unterkunft eingerechnet werden, dann könnte es passieren, das Hartz-IV-Bezieher nicht mehr arm, sondern nur noch armutsgefährdet sind. Wär ja schon ein kleiner Fortschritt.

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"Armut schöngerechnet", UZ vom 23. März 2018



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