Auch die Ausbreitung des Niedriglohnsektors zeigt Wirkung

Armut auf neuem Höchststand

Von Bernardo Grub

Deutschland hat einen neuen Rekord aufgestellt, und diesen wird mit Sicherheit niemand bejubeln: „In 2015 ist nicht nur die Wirtschaftskraft Deutschlands, sein Reichtum, sondern auch seine Armut gestiegen“, stellt der Paritätische Wohlfahrtsverband in seinem letzte Woche erschienen Armutsbericht fest. Die Armutsquote erreichte demnach mit 15,7 Prozent einen neuen Höchststand seit der Wiedervereinigung, was rechnerisch bedeute, „dass im Jahre 2015 rund 12,9 Mio. Menschen in Deutschland unter der Einkommensarmutsgrenze lebten“.

Obwohl die Bundesrepublik in den letzten zehn Jahren meist eine gute Wirtschaftsleistung aufweisen konnte und 2015 sogar einen preisbereinigten Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts von 1,7 Prozent, schlug sich dies nicht in einem Abbau der Armut nieder. „Vielmehr muss mit Blick auf die letzten zehn Jahre konstatiert werden, dass wirtschaftlicher Erfolg offensichtlich keinen Einfluss auf die Armutsentwicklung hat.“ Ganz im Gegenteil: Eine immer größer werdende Zahl von Menschen wird vom zunehmenden gesellschaftlichen Reichtum abgekoppelt. Zu diesem Befund passe, dass der Anstieg der Armutsquote mit einem weiteren Rückgang der Arbeitslosenquote und der Hartz-IV-Quote einherging. Das sei ein Beleg dafür, dass zunehmende Beschäftigtenzahlen allein nicht „eine weitere Spaltung verhindern können“.

Wenn in dem Bericht von Armut die Rede ist, dann ist die relative Einkommensarmut gemeint. Dieses Konzept geht davon aus, „dass in unterschiedlich wohlhabenden Gesellschaften Armut sehr unterschiedlich aussehen kann und vor allem durch gesellschaftlichen Ausschluss, mangelnde Teilhabe und nicht erst durch Elend gekennzeichnet ist“. Mit zunehmendem Wohlstand einer Gesellschaft veränderten sich Lebensweisen und neue Barrieren der Teilhabe können entstehen. So könne „Armut in einer Gesellschaft durchaus zunehmen, wenn die Kaufkraft aller im Durchschnitt steigen sollte“. In Zahlen ausgedrückt bedeutet das, dass ein Single mit einem monatlichen Einkommen von unter 942 Euro als arm gilt genauso wie ein Paarhaushalt mit zwei kleinen Kindern, der im Monat weniger als 1.978 Euro zur Verfügung hat. Mit diesem Einkommen ist „eine selbstverständliche Teilhabe an dieser Gesellschaft nach aller Lebens- und wohlfahrtspflegerischen Erfahrung nicht mehr gegeben“.

Betroffen davon ist fast jeder zweite Alleinerziehende (43,8 Prozent), jede vierte kinderreiche Familie (25,2 Prozent), zwei von drei Arbeitslosen (59 Prozent), jeder dritte Mensch mit niedrigem Qualifikationsniveau (31,5 Prozent), jeder dritte Ausländer (33,7 Prozent) oder jeder vierte Mensch mit Migrationshintergrund (27,7 Prozent). Aber auch unter den Erwerbstätigen ist die Armutsquote leicht angestiegen auf 7,8 Prozent. Besonders dramatisch wuchs allerdings der Anteil armer Rentner (+49 Prozent).

„Die Zahl von rund sechs Millionen Bürgerinnen und Bürger, die von Altersarmut bedroht sind, ist alarmierend und darf nicht mehr verharmlost werden“, forderte der Präsident der Volkssolidarität, Wolfram Friedersdorff, bereits Anfang Februar in einer Erklärung angesichts der damals gemeldeten Daten des Europäischen Statistikamtes Eurostat. Friedersdorff kritisierte, dass die Bundesregierung alles daran setze, die tatsächliche Situation in Deutschland kleinzureden – nicht nur die Altersarmut, auch „die Ursachen dafür wie die zunehmende Spaltung der Einkommen, die Ausbreitung des Niedriglohnsektors oder die massiven Einschnitte im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung würden von der Regierung vertuscht“.

Dass die Bundesregierung tatsächlich versucht, das Problem der Armut im Land kleinzureden, zeigt die Diskussion um den fünften Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, der in diesem Jahr vorgelegt werden soll. So ließ vermutlich das Bundeskanzleramt kritische Passagen streichen, die darauf hinwiesen, dass auch in Deutschland vor allem Politik für Reiche gemacht wird.

Gestützt wurde diese Aussage von dem Forschungsbericht „Systematisch verzerrte Entscheidungen? Die Responsivität der deutschen Politik von 1998 bis 2015“, der im Auftrag des Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) erstellt wurde. Wissenschaftler hatten 252 in DeutschlandTrend-Umfragen gestellte Sachfragen beispielsweise zu „Konjunkturhilfen, Zuzahlungen bei Medikamenten, die Erhöhung des gesetzlichen Renteneintrittsalters“ ausgewertet, und für Deutschland ähnliches festgestellt, was für die USA lange bekannt ist: Wenn Arme und Reiche Unterschiedliches wollen, folgt die Politik fast ausnahmslos den Reichen.

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"Armut auf neuem Höchststand", UZ vom 10. März 2017



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