„Altersarmut auf Rekordniveau“, läuft es über die Nachrichtenticker. 3,54 Millionen Menschen über 65 Jahren zählen inzwischen zur Schar der „Armutsgefährdeten“. Zugleich wächst die Kinderarmut. Beides hängt eng miteinander zusammen. In Deutschland wird nicht nur Reichtum, sondern auch Armut „vererbt“. Das heißt: Wer in Armut aufwächst, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit arm sterben.
Die jüngste Forsa-Studie zur Kinderarmut lässt aufhorchen: 88 Prozent der Befragten halten Kinderarmut für ein drängendes Problem. Mindestens jedes fünfte Kind gilt als arm – das entspricht dem Durchschnitt aller offiziell in Armut lebenden Menschen in Deutschland.
Wie sich Armut auswirkt, zeigt sich zunächst bei der Ernährung, So antworteten 9 Prozent aller Befragten in der von „Save the Children“ in Auftrag gegebenen Forsa-Studie, dass sie „sehr häufig“ auf gesunde und eher teure Lebensmittel verzichten. Dieser Wert bezieht sich übrigens auf alle Befragten mit Kindern, nicht nur auf diejenigen, die als arm eingestuft werden.
Ganz anders fiel das Ergebnis in der Kategorie „Hobbys und Freizeit“ aus. Die Frage, ob ihr Kind manchmal traurig sei, weil es aus finanziellen Gründen nicht an Freizeitaktivitäten teilnehmen könne, beantworteten 82 Prozent der Eltern mit „nie“. Der „Spiegel“ zieht daraus eine seltsame Schlussfolgerung und fragt, ob die Eltern „mehr Geld für Hobby und Freizeit“ ausgäben.
Der Verdacht wird nahegelegt, dass Eltern falsche Prioritäten setzen. Kino statt Karotten? Gaming statt Gemüse? Selbst wenn sie ihrem Kind dadurch Sportaktivitäten, Musik- oder Ballettunterricht ermöglichen, geht gesunde Ernährung nicht vor?
Ein gemeinsames Schulessen, Sport- und Musikangebote waren in der DDR übrigens Teil des normalen Schulunterrichts und kostenfreier Nachmittags- und Ferienangebote. In der BRD verschwinden Musik- oder Schwimmunterricht nach und nach aus den Schulen. Alles wird zur „Privatsache“, abhängig von den Eltern und der Dicke ihres Geldbeutels.
Glücklicherweise verstehen es auch Menschen, die in Armut leben, glücklich zu sein. Was aber sagt dies über gesellschaftliche Teilhabe aus? Sehr wenig.
Meine Kindheit in Hamburg war von Armut geprägt. Als Älteste von vier Geschwistern und mit einer ab meinem 14. Lebensjahr alleinerziehenden Mutter gehörte ich weder einem Sportverein an noch lernte ich, ein Instrument zu spielen. Die Ursache war Geld- und Zeitmangel. Denn ich war verantwortlich für drei jüngere Geschwister und mit einigen Pflichten betraut, die mit unserer Hausmeisterwohnung einhergingen. Statt Sport im Verein zu machen, musste ich den Kohleofen am Laufen halten – ein Ofen, der damals zur Beheizung von zwei je fünfstöckigen Wohnhäusern diente. Nach dem Kohleschaufeln und nach dem Wischen und Bohnern der Treppenhäuser war keine weitere sportliche Ertüchtigung mehr nötig.
Aber war ich unglücklich? Bestimmt nicht. Wäre sie gefragt worden, hätte meine Mutter wahrscheinlich genauso geantwortet wie die vom „Spiegel“ angeführten 82 Prozent der Eltern, die meinen, ihre Kinder seien aus Geldmangel „nie“ unglücklich.
Auch meine eigenen Kinder sind in einem Haushalt aufgewachsen, in dem wir mit wenig Geld auskommen mussten. Ich sparte beim Einkauf, kaufte nur die billigsten Lebensmittel und ärgerte mich über die Arroganz der Bio-Apostel. „Wer kann sich das leisten?“, fragte ich mich. Aber meine Kinder hielt ich dennoch für glücklich. Anders als ich bekamen sie Musikunterricht und konnten Sportvereinen beitreten. Um ihnen diesen Zugang zu ermöglichen, musste ich immer gut über die vorhandenen Möglichkeiten informiert sein. Auch das war und ist ein Privileg. Viele wissen das nicht.
Jahrzehnte später haben mir meine – inzwischen erwachsenen – Kinder erzählt, dass nicht alles so rosig war. Meine Tochter schämte sich damals dafür, dass ich als Alleinerziehende Mittel des Fördervereins der Schule zur Finanzierung einer Klassenreise in Anspruch nahm. Und mein Sohn schilderte, dass er gemobbt wurde, weil er in einem „Hexenhaus“ lebte. In seiner Gesamtschule gab es ein gegenseitiges Besuchsprogramm, damit sich Kinder aus unterschiedlichen Schichten und Stadtteilen auch privat besser kennen lernen. Das war eine gutgemeinte Idee, scheiterte aber an sozialen Sprengsätzen. Weil einige Schülerinnen und Schüler – in diesem Fall eine Flüchtlingsfamilie – zu fünft in zwei Zimmern unterm Dach wohnten und sich dabei noch glücklich schätzten, der Sammelunterkunft entronnen zu sein, wurde das Projekt endgültig eingestellt. Zu groß waren und sind die sozialen Unterschiede.
Mein Resümee: Wenn sich Eltern und Kinder glücklich schätzen, hat dies leider sehr wenig mit sozialer Teilhabe zu tun. Es braucht gute Schulen für alle, in denen der Zugang zu Bildung, Sport, Musik und Kunst ohne Hürden ermöglicht wird. Kinder aus armen Haushalten müssen sich viel zu oft für ihre Herkunft rechtfertigen. Die Klassengesellschaft lässt grüßen.