UZ: Das Ruhrgebiet gilt mittlerweile als Armutsregion, in der sich die soziale Situation der Menschen immer weiter verschlechtert. Wie stellt sich die Situation derzeit dar?
Christian Leye: Die Situation ist verheerend. Im Oktober waren 919 161 Personen in Nordrhein-Westfalen erwerbslos. Bei 322 324 davon handelt es sich um sogenannte Langzeitarbeitslose.
Vor allem der Kahlschlag im Bergbau mit den Zechenschließungen in Kamp-Lintfort, Dinslaken-Lohberg oder der Schachtanlage in Duisburg-Walsum und die ständigen Massenentlassungen wie etwa bei Opel Bochum, im Verwaltungsbereich von ThyssenKrupp oder Siemens haben einen Anstieg der Erwerbslosigkeit noch einmal befördert. Die Folge ist, dass die Armutsquoten beispielsweise in Dortmund oder Duisburg aktuell bei etwa 25 Prozent liegen. Zu der wachsenden privaten Armut kommt die Armut der öffentlichen Haushalte. Viele Kommunen in Nordrhein-Westfalen sind faktisch pleite, finanzieren laufende Ausgaben durch Kassenkredite und sind gezwungen, die Infrastrukturen der Städte zerfallen zu lassen, weil das Geld für die Instandsetzung fehlt. Die Folgen sind für die Menschen vor Ort unmittelbar spürbar durch eine Kürzungspolitik im Sozial-, Kultur- oder Jugendbereich.
UZ: Wer ist Ihres Erachtens von der Armut am meisten betroffen?
Christian Leye: Vor allem betagte Menschen, Kinder und Frauen sind betroffen. Aktuell muss jede neunte erwerbsfähige Frau in NRW Hartz IV-Leistungen in Anspruch nehmen. Betrachtet man alleine die Situation im Ruhrgebiet, ist es sogar jede siebte Frau. In Gelsenkirchen ist beispielsweise jede fünfte erwerbsfähige Frau betroffen. Die Wohlfahrtsverbände in NRW veröffentlichen mehrmals jährlich den „Arbeitslosenreport NRW“. Sie haben darauf hingewiesen, dass Frauen spätestens nach der Geburt des ersten Kindes schlagartig gegenüber Männern benachteiligt würden und häufiger als Männer von Arbeitslosigkeit bedroht seien. Frauen fällt es zudem schwerer, aus der Hilfebedürftigkeit auszusteigen. Während mehr als jede zweite Hartz IV-Empfängerin in NRW (51,2 Prozent) im Dezember 2014 schon vier Jahre und länger Leistungen bezog, lag der Anteil bei den Männern bei 45,1 Prozent, wie der letzte Arbeitslosenreport darlegt.
Der im Februar veröffentlichte jährliche Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands zeichnet ebenfalls ein düsteres Bild. So wuchs Armut in NRW seit Jahren doppelt so schnell wie im Rest Deutschlands. Mit dem Ruhrgebiet und dem Großraum Köln/Düsseldorf hat Nordrhein-Westfalen gleich zwei Problemregionen, Niedriglöhne und prekäre Beschäftigung entkoppeln weite Teile der Bevölkerung von jedem wirtschaftlichen Fortschritt – so lassen sich zentrale Erkenntnisse des Armutsberichts zusammenfassen. In Düsseldorf manifestiert sich die Spaltung der Gesellschaft wie unter einem Brennglas: Einerseits droht die NRW-Landeshauptstadt sich zu einer neuen Armutszone zu entwickeln, andererseits ist Düsseldorf mit 378 Einkommensmillionären die Hauptstadt der bundesdeutschen Millionärselite.
Der seit Jahren wie ein Gebet verkündete Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und sozialer Entwicklung wird somit nicht nur im Armutsbericht, sondern auch in der Realität widerlegt: Wenn die Unternehmen die Menschen für Niedriglöhne arbeiten lassen, kann die Wirtschaft wachsen und die Arbeitslosigkeit sinken, die Menschen bleiben trotzdem arm. Eben diese Entwicklung geht aus den Daten des Paritätischen Wohlfahrtsverbands hervor und kann zusammengefasst werden als „arm durch Arbeit zum Wohl der Reichen“.
UZ: Inwiefern?
Christian Leye: Auch in NRW haben die oberen Einkommensdezile Zuwächse von zehn und 12 Prozent erreicht. Dort ist das Geld hingeflossen, das den Menschen nun fehlt. Es macht keinen Sinn, die Armutsentwicklung getrennt von der Reichtumsentwicklung zu betrachten. In einer Klassengesellschaft besteht zwischen beiden Größen ein kausaler Zusammenhang. Über diesen Zusammenhang aufzuklären ist Aufgabe linker Politik.
UZ: Was unternimmt die „rot-grüne“ NRW-Landesregierung unter Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) gegen diese dramatische Entwicklung?
Christian Leye: Ich kann keinerlei Aktivität der Landesregierung erkennen, die das Problem endlich an der Wurzel angehen würde. Dass die Armut in NRW seit 2007 über dem deutschen Mittelwert liegt und jedes Jahr überdurchschnittlich wächst, stößt bei der SPD und Grünen in der Landesregierung vielmehr auf tiefenentspannte Teilnahmslosigkeit. Weder liegt ein überzeugendes Konzept auf dem Tisch, wie die jahrelange Negativentwicklung in Nordrhein-Westfalen gestoppt werden kann, noch wie endlich die Enteignung der Bevölkerungsmehrheit durch die Reichen und Superreichen umgekehrt werden kann. Diese Haltung von SPD und Grünen ist dabei nur folgerichtig: wir erleben nun, welche Konsequenzen die Agenda-Politik auf die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums hat. Da die Agenda-Politik immerhin eine rot-grüne Koproduktion war, verwundert das ohrenbetäubende Schweigen der Landesregierung zu den drängendsten Fragen des Landes kaum.
UZ: Und was wären notwendige Maßnahmen?
Christian Leye: Wir brauchen als erste Schritte ein nachhaltiges Konjunktur- und Beschäftigungsprogramm, wie es meine Partei seit geraumer Zeit fordert und in dessen Rahmen in Arbeitsplätze investiert werden muss. Notwendig ist eine Investitionsoffensive für NRW und insbesondere für das Ruhrgebiet und den Großraum Köln/Düsseldorf, um tarifgebundene und gut bezahlte Arbeitsplätze zu schaffen, einen echten Mindestlohn ohne Ausnahmen in Höhe von 12 Euro sowie eine mutige Besteuerung der Oberschicht, um der Umverteilung zu Lasten der Bevölkerungsmehrheit ein Ende zu setzen. Doch mit einer Politik der Schuldenbremse oder weiteren Spardiktaten für die Kommunen erreicht die Regierung von Hannelore Kraft genau das Gegenteil.
Im bevölkerungsreichsten Bundesland zeigt sich exemplarisch, dass der angeblich alternativlose Kapitalismus der Mehrheit der Menschen keine Perspektive bietet, sondern nur wachsende Armut, Ausgrenzung, Existenzangst, Arbeit bis zur Selbstaufgabe, Zerstörung der ökologischen Grundlagen und des Gemeinwesens, vom Zusammenhalt im Stadtviertel bis zum Verfall der öffentlichen Infrastruktur. Die nachhaltige Lösung dieser Probleme liegt in der politischen Entmachtung des einen Prozents Superreicher und in ihrer ökonomischen Entwaffnung.