„Chancengerechtigkeit“ für Jugendliche? Aktuelle Zahlen belegen Dimension des Niedriglohnsektors

Arm bleibt arm

„Sozial ist, was Arbeit schafft.“ So begründete die „rot-grüne“ Bundesregierung in den 2000er Jahren die Etablierung des größten Niedriglohnsektors in Europa. Aktuell muss hier inzwischen fast jeder vierte Beschäftigte seine Arbeitskraft für weniger als 14 Euro pro Stunde verkaufen – das besagen Daten des Statistischen Bundesamts. In absoluten Zahlen entspricht dies 9,3 Millionen von insgesamt 39,8 Millionen Beschäftigungsverhältnissen in Deutschland.

Besorgniserregende Zahlen, die durch eine Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung bestätigt werden. Nach Angaben des gewerkschaftsnahen Instituts waren Anfang des vergangenen Jahres bundesweit 18,7 Prozent der Vollzeitbeschäftigten Geringverdiener. Als Geringverdiener wurden in der Studie, in Anlehnung an die Definition der „Bundesagentur für Arbeit“, Beschäftigte bezeichnet, die im sogenannten „unteren Entgeltbereich“ weniger als zwei Drittel des mittleren monatlichen Bruttoarbeitsentgeltes aller sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten erhalten. Für den Untersuchungszeitraum entsprach dies einem monatlichen Einkommen von weniger als 2.284 Euro brutto.

Die Größe des Niedriglohnsegments ist nach den Untersuchungsergebnissen des WSI, in Abhängigkeit von Region, Branche, Qualifikation und Geschlecht, sehr unterschiedlich ausgeprägt. So bleibt Ostdeutschland seit den politischen und ökonomischen Umwälzungen 1989/90 eine Sonderwirtschaftszone und neoliberales Experimentierfeld. Niedriglohnquoten von mehr als 30 Prozent sind in vielen ostdeutschen Landkreisen und Städten auch über 30 Jahre nach den Versprechungen von „blühenden Landschaften“ an der Tagesordnung.

Überdurchschnittlich häufig betroffen von Arbeit im unteren Lohnsegment sind Frauen und junge Vollzeitbeschäftigte sowie Menschen ohne deutschen Pass oder Berufsabschluss. Auch die Branche, in der die Kolleginnen und Kollegen arbeiten, spielt hier eine zentrale Rolle. Im Gastgewerbe (68,9 Prozent), in Leiharbeit (67,9 Prozent) und Land- und Forstwirtschaft (52,7 Prozent) arbeiten mehr als die Hälfte der Vollzeitkräfte im unteren Entgeltbereich, so das WSI.

Das massenhafte Phänomen, dass Arbeit nicht vor Armut schützt, wird selbst durch eine Studie der „Arbeitgeber“-nahen Bertelsmann-Stiftung bestätigt. Diese kam bereits Ende 2021 zu dem Ergebnis, dass bundesweit 860.000 Kolleginnen und Kollegen trotz Arbeit auf Leistungen der Grundsicherung angewiesen sind.

Der gigantische Niedriglohnsektor in Verbindung mit einer seit Jahren praktizierten Umverteilungspolitik von unten nach oben haben dafür gesorgt, dass nach Zahlen des Paritätischen Wohlfahrtsverbands inzwischen 14,1 Millionen Menschen – darunter 2,2 Millionen Kinder – in Deutschland arm sind beziehungsweise als armutsgefährdet gelten und über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung verfügen.

Anders als es das „Aufstiegsversprechen des bundesdeutschen Wirtschaftswunders“ einst verhieß, gilt für „unser“ Wirtschaftssystem längst: Wer arm ist, bleibt es in der Regel auch. Mehr noch: Armut wird von Generation zu Generation weitervererbt. Die Wissenschaft spricht hier von regelrechten Armutskreisläufen.

In der vergangenen Woche veröffentlichte Daten des Statistischen Bundesamts belegen die These, wie sehr die Armutsgefährdungsquote von jungen Menschen vom sozialen Status und Bildungsabschluss ihrer Eltern abhängt. Bei Kindern und Jugendlichen, deren Eltern über keinen beruflichen Abschluss verfügen, betrug die Armutsgefährdungsquote im vergangenen Jahr 37,6 Prozent. Bei den unter 18-Jährigen mit Eltern mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung oder dem Abitur waren es hingegen nur 14,5 Prozent. Hatten die Eltern einen Meistertitel oder ein abgeschlossenes Studium, waren noch 6,7 Prozent der Kinder und Jugendliche von Armut bedroht.

Dies macht deutlich, sozial ist eben nicht, was irgendeine Arbeit schafft. Sozial ist, was gute Arbeit schafft, tarifgebunden und mitbestimmt. Genau diese Arbeitsverhältnisse werden jedoch mit der Etablierung des Niedriglohnsektors kontinuierlich zurückgedrängt.

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"Arm bleibt arm", UZ vom 4. August 2023



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