Arbeitszeitverkürzung wieder Thema

Kolumne von Anne Rieger

Arbeitszeitverkürzung ist wieder Thema unter GewerkschafterInnen. Jahrelang war die Diskussion verschüttet worden. Den Unternehmern war es gelungen, den Beschäftigten einzureden, Arbeitszeitverkürzung führe zu Rationalisierungen. Somit sei die Arbeitsverdichtung eine Folge der Arbeitszeitverkürzung. Nun ist es erlebte Realität, dass Rationalisierung um des Profits und der Konkurrenz willen im Kapitalismus immer und ununterbrochen von den Unternehmern realisiert wird. Und das, obwohl es seit Jahren keine Arbeitszeitverkürzung, sondern eine schleichende Verlängerung der Arbeitszeit bei gleichzeitiger Arbeitsverdichtung gegeben hat.

Die Erfahrungen mit Industrie 4.0 werden die Notwendigkeit der Arbeitszeitverkürzung noch mehr vor Augen führen. Fachexperten der Unternehmerseite prognostizieren, dass es zu einer „Veredelung“ und „Verkleinerung“ der Stammbelegschaften und einer Zunahme von ausgelagerten Arbeitsaufträgen führen wird. Von einer Halbierung der Industriebelegschaften wird gesprochen. ver.di-Chef Bsirske warnt vor digitaler Arbeitslosigkeit.

Drastische Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich ist folglich das Gebot der Stunde, soll die Arbeitslosigkeit gebremst, die Arbeit nicht weiter verdichtet und das Einkommen der Beschäftigten nicht gekürzt werden. Perspektivisch ist eine 30-Stunden-Woche mit einem 6-Stunden-Arbeitstag die strategische Orientierung, an der die verschiedenen Initiativen zur Arbeitszeitverkürzung – und in einem ersten Schritt gegen Arbeitsverdichtung – zu messen bzw. zu unterstützen sind. Einige positive Beispiele geben Hoffnung:

  • Bei Porsche wurde die Arbeitszeit in der Produktion bei vollem Lohnausgleich um eine Stunde auf 34 Std. verkürzt.
  • Bei der Bahn wurde durch Streik eine Verkürzung der Arbeitszeit um eine Stunde auf 38 Stunden ab 2018 im Streik durchgesetzt
  • ver.di diskutiert über eine kurze Vollzeit für alle mit einer Verfügungszeit von freien 14 Tagen pro Jahr = zwei Stunden pro Woche.
  • In der IG Metall gibt es unterschiedliche Forderungen: 30 Stunden für junge Familien, 35 Stunden für den Osten, Arbeitszeiten entsprechend den individuellen Bedürfnissen. Die schleichende Verlängerung der Arbeitszeit durch permanente Erreichbarkeit, kostenlose Heimarbeit oder Kappung von Arbeitszeit soll erfasst werden.
  • In der Charité wurde durch Streik ein Eckpunktepapier durchgesetzt, das Mindestbesetzungsstandards enthält. Mehr Personal muss eingestellt werden.
  • Die IG BAU strebt einen Tarifvertrag gegen Arbeitsverdichtung an.
  • Abbau von Überstunden wird in vielen Arbeitsstätten zunehmend zum Thema.

Ökonomisch rechnet sich die AZV längst. In durchschnittlich 28,7 Stunden pro Woche haben die 37 Millionen Beschäftigte 2013 ein 700 Prozent höheres BIP erschuftet als die 22,2 Millionen Kolleginnen und Kollegen mit durchschnittlich 40,8 Stunden pro Woche im Jahr 1970. Die erwerbslosen Kolleginnen und Kollegen sind in dieser Statistik nicht erfasst (Broschüre: 30 h sind genug).

Durchschnittlich ist die 30-Stunden-Woche also längst Fakt: Teilzeit, prekäre Beschäftigung, Altersteilzeit, frühere Rente mit Abschlag. Die inhumanste Form ist die Arbeitslosigkeit. In allen Formen zahlen die Beschäftigten die AZV selbst. Die Einkommen sinken bzw. sind niedriger als ein entsprechendes Vollzeiteinkommen. Die Unternehmer profitieren. Sie haben erkannt, dass die ständig zunehmende Ausbeutung der Menschen durch Intensivierung der Arbeit im Arbeitsprozess ihre zeitlichen Grenzen hat, wie schon Marx vor 150 Jahren schrieb. Folgerichtig schaffte die Regierung Kohl – parallel zu der von den Gewerkschaften 1984 erkämpften Arbeitszeitverkürzung in Richtung 35-Stunden-Woche – die gesetzliche Grundlage für Teilzeitarbeit. Individuelle Auswege aus einem zu langen intensiven Arbeitstag statt kollektiver Arbeitszeitverkürzung ohne Lohn- und Gesundheitsverlust ist ihr Modell.

Dem müssen wir eine gesellschaftlich getragene Initiative entgegensetzen. Gemeinsam mit den Beschäftigten treiben wir ihre Lösungsansätze in Richtung einer drastischen AZV voran, die sie nicht selber bezahlen – weder mit sinkenden Einkommen noch mit Intensivierung ihrer Arbeit. 30-Stunden-Woche – ein Traum? Die Gaststättenunternehmer träumen bereits vom 12-Stunden-Tag. Wir wissen, es wird ein harter Kampf – aber ohne Kampf hätten unsere politischen Väter und Mütter weder den 10, noch der 8-Stunden-Tag, noch die 35-Stunden-Woche durchsetzen können.

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"Arbeitszeitverkürzung wieder Thema", UZ vom 17. Juli 2015



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