„Historisch“ war eines der am häufigsten benutzten Adjektive des Wochenendes: Schon lange hat man keine so starke Streikbewegung mehr in Deutschland gesehen wie heute. Kaum eine, kaum ein Referentin oder Referent, die oder der nicht mit dieser Beobachtung einstieg. Die 5. Konferenz Gewerkschaftliche Erneuerung vom 12. bis 14. Mai an der Ruhr-Universität Bochum war selbst Ausdruck dieser Entwicklung: Mit 1.550 Teilnehmern kamen fast doppelt soviele wie zur letzten vor drei Jahren – Rekord. Zudem war der Altersdurchschnitt sichtbar niedriger als bei vergangenen Streikkonferenzen.
Seit der ersten Konferenz vor zehn Jahren in Stuttgart sei die Debatte um gewerkschaftliche Erneuerung „viel breiter und tiefer“ geworden, befand Fanny Zeise, Referentin Gewerkschaftliche Erneuerung der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Die Stiftung der Linkspartei veranstaltete die Konferenz in Kooperation mit 15 Gewerkschaftsgliederungen. Der große Erfolg der Konferenz komme daher, dass sie kein abstraktes Projekt Einzelner sei, sondern kollektive Leistung aktiver Gewerkschafter, freute sich Zeise.
Mehr als 170 Referentinnen und Referenten fächerten das Motto der Konferenz, „Gemeinsam in die Offensive! Gewerkschaftsarbeit in Zeiten von Krise, Klima, Inflation“ in 56 Einzelveranstaltungen auf. Schon im Titel wurden der Kriegskurs der Bundesregierung und der Umgang der Gewerkschaften damit ausgeklammert. Das Schweigen zu diesem Thema setzte sich leider auf der Konferenz fort. Damit wurde auch eine Chance für die dringend notwendige Integration von Friedenskampf und Arbeiterbewegung vertan.
Der inhaltliche Aufschlag kam von Klaus Dörre, Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Uni Jena. Gewerkschaftliche Kämpfe liefen heute in einer „ökonomisch-ökologischen Zangenkrise“. Ökologische und soziale Frage müssten zusammen gedacht werden. „Wer die soziale Frage ausklammert zugunsten der ökologischen, treibt die Arbeiter in die Arme der rechten Konterrevolution.“ Die Forderung nach der 32-Stunden-Woche, mit der die IG Metall in die Tarifrunde Stahl ziehen will, könne ein Konvergenzthema zwischen ökologischer und sozialer Bewegung werden.
Je härter die Auseinandersetzungen in den Betrieben liefen, desto lauter werde der Ruf nach Einschränkungen des Streikrechts, stellte Hans-Jürgen Urban fest, Mitglied des Geschäftsführenden Vorstands der IG Metall. Die deutschen Gewerkschaften dürften sich dieses Recht kein zweites Mal nehmen lassen. In der heutigen Umbruchsituation breite sich Desorientierung in der Gesellschaft aus. Gewerkschaften müssten den Kampf um Hegemonie, um neue Deutungsmuster führen. „Wenn wir nicht verdammt aufpassen, werden wir diesen Konflikt nicht gewinnen“, warnte Urban. Den Kampf möchte er grenzüberschreitend führen: „Sozialistischer Internationalismus“ sei leider zum verschütteten Thema geworden.
Den größten Applaus bekamen nicht die Referenten, sondern Kolleginnen und Kollegen, die frisch aus Arbeitskämpfen kommen oder aktuell in Tarifrunden kämpfen. Etwa Anuschka Mucha, Intensivpflegekraft an der Uniklinik Köln. Ihr Verständnis von Gewerkschaft habe sich während des 77-tägigen Streiks für einen Tarifvertrag Entlastung grundlegend geändert. „Im Laufe des Streiks wurde mir klar, dass es nicht mehr nur um Entlastung geht, sondern auch gegen das profitorientierte Gesundheitssystem, ganz grundsätzlich.“ Standing Ovations gab es auch für Lieferando-Fahrer und Studentische Hilfskräfte, die jeweils für einen ersten Tarifvertrag kämpfen. Eine Gruppe Amazon-Beschäftigter erinnerte am letzten Tag der Konferenz daran, dass Amazon vor auf den Tag genau zehn Jahren erstmals bestreikt wurde, in Bad Hersfeld und Leipzig. Diese Kollegen haben längst hinter sich gelassen, was Wolfgang Däubler, Professor für Arbeitsrecht an der Uni Bremen, in seinem Referat gegen Ende der Konferenz kritisierte: Die Haltung vieler Gewerkschaften, den Konflikt als absolute Ausnahmesituation zu sehen. „Die Belegschaft muss aushalten, dass der Arbeitgeber grimmig schaut und mit Liebesentzug droht.“ Lese er in gewerkschaftlichen Publikationen von Klassenkampf, der einem von oben aufgezwungen werde, denke er sich immer: „Freut euch doch!“