Im Tarifbezirk Baden-Württemberg kam es in der fünften Verhandlungsrunde am vergangenen Freitag zu einem sogenannten Pilotabschluss für die Metall- und Elektroindustrie. Der Vorstand der IG Metall empfiehlt, diesen Abschluss in allen anderen Tarifbezirken anzunehmen. Am 29. November berät die Große Tarifkommission über das Ergebnis. Die Erklärungsfrist zur Annahme des Abschlusses läuft bis zum 15. Dezember.
Das Tarifergebnis beinhaltet Folgendes: die Entgelte steigen ab 1. Juni 2023 um 5,2 Prozent, ab dem 1. Mai 2024 um weitere 3,3 Prozent. Zudem erhalten die Beschäftigten eine steuerfreie Inflationsprämie in Höhe von 3.000 Euro. Diese wird in zwei Schritten ausbezahlt, 1.500 Euro spätestens im Februar 2023, weitere 1.500 Euro spätestens im Februar 2024. Der Tarifvertrag läuft bis zum 30. September 2024, also zwei volle Jahre. Die einzige ergänzende materielle Vereinbarung ist die Erhöhung des Zusatzentgelts (ZUB), das von 12,3 Prozent auf 18,5 Prozent der Entgeltgruppe 7 erhöht wird und somit von 400 auf 600 Euro steigt. Die Auszahlung kann allerdings bei schwieriger wirtschaftlicher Lage verschoben oder auch ganz ausgesetzt werden, wenn die Umsatzrendite unter 2,3 Prozent liegt. Diese Differenzierung wird die Spaltung der Belegschaften weiter vertiefen – insbesondere zwischen Autokonzernen und ihren Zulieferern.
Das Ergebnis der Tarifauseinandersetzung in der Metall- und Elektroindustrie ist besser als es viele befürchtet hatten. Aber es bedeutet trotzdem erhebliche Reallohnsenkungen – und wird sich negativ auf kommende Tarifauseinandersetzungen auswirken.
Die Kolleginnen und Kollegen bewerten den Abschluss sehr unterschiedlich. Einige sind positiv überrascht und zufrieden. Sie sehen vor allem in der Inflationsprämie eine wichtige Entlastung in der Krise. Andere sprechen von einem „faulen Kompromiss“ und einer „einzigen Katastrophe“ und berichten davon, dass die Stimmung in den Betrieben am Boden sei und hoffen, dass die Tarifkommission diesem Ergebnis nicht zustimmt. „Die Leute wissen nicht mehr, wie sie ihre Rechnungen bezahlen sollen, und dann so was …“, ist eine oft gehörte Reaktion.
Auf große Kritik stoßen die lange Laufzeit von zwei Jahren und die acht Nullmonate. Letzteres bedeutet, dass es dann über fünf Jahre keine tabellenwirksame Lohnerhöhung gegeben haben wird, da die letzte im April 2018 war. Die Inflation wurde in den letzten Jahren nicht ausgeglichen – und auch in diesem Jahr gibt es trotz explodierender Preise keine Lohnerhöhung. Erst Mitte nächsten Jahres steigen die Entgelte – aber auch um einige Prozent weniger als die prognostizierte Inflation. Summa summarum werden die Reallohnverluste der letzten und der kommenden zwei Jahre bei über 10 Prozent liegen – da fängt auch die Sonderzahlung von 3.000 Euro nicht viel auf. Der Lebensstandard wird in dieser relativ gut bezahlten Branche gewaltig einbrechen und vieles verändern.
Wenig bekannt gemacht wurde die Energienotfallklausel. Darin ist festgehalten, dass bei Ausrufung der Notfallstufe bei Energieengpässen innerhalb von zwei Tagen Verhandlungen aufgenommen werden über Abweichungen von Flächentarifverträgen. Diese Klausel ist hochgefährlich, kann sie doch alle erkämpften Errungenschaften angreifen und letztlich den Bestand des Flächentarifvertrags gefährden. Wenn die Abweichung zum Normalzustand wird, wäre das ein großer Sieg für das Kapital und eine Existenzgefährdung für die Gewerkschaften.
Viele Kolleginnen und Kollegen verstehen nicht, warum die Verhandlungsführer der IG Metall zu diesem Zeitpunkt abgeschlossen haben. Die Mobilisierung im Arbeitskampf lief gut. Von Woche zu Woche beteiligten sich mehr Belegschaften. Zählt man die Teilnehmenden an den Aktionen vor Ende der Friedenspflicht und die 900.000 Warnstreikenden zusammen, haben sich fast eine Million Metaller aktiv in diesen Tarifkampf eingebracht. Bei den Aktionen am vergangenen Donnerstag war die Stimmung noch kämpferisch, obwohl bereits bekannt war, dass es wohl in der Nacht zum Abschluss kommt. In den Betrieben wurden 24-stündige Warnstreiks vorbereitet, in Baden-Württemberg als Pilotbezirk auch Urabstimmung und Vollstreik. Nichts zwang den IG-Metall-Vorstand zu diesem Zeitpunkt zu einem Abschluss – außer man sorgte sich um die Profite des Kapitals, um die Konkurrenzfähigkeit. Die Kampfbereitschaft, der Schwung und die Entschlossenheit der Kolleginnen und Kollegen wurden nicht genutzt. Sie konnten nicht zeigen, welche Stärke sie besitzen, dabei wäre diese Erfahrung so wichtig für die kommenden schwierigen Jahre gewesen. Sie hätte die Ausgangsbedingungen für künftige Kämpfe enorm verbessert, insbesondere auch bei Auseinandersetzungen gegen Entlassungen und Standortschließungen.
Dieser Pilotabschluss sollte von den Vertrauenskörpern abgelehnt werden, so wie die Vertrauensleute-Vollversammlung des Mercedes-Benz-Werks Untertürkheim dies am 21. November mit großer Mehrheit tat. Über ein Dutzend Redner sprachen sich gegen das Ergebnis aus. Auch die Anwesenheit und viele Gegenreden des baden-württembergischen Bezirks- und Verhandlungsleiters Roman Zitzelsberger konnten die ablehnende Haltung nicht kippen. Er darf nicht zum Vorbild werden für die anstehenden Tarifauseinandersetzungen im öffentlichen Dienst, bei Post und Bahn. Grundsätzlich darf es in dieser Zeit keine Abschlüsse unterhalb der Inflation geben. Stattdessen muss der gemeinsame Kampf aller Gewerkschaften gegen das Abwälzen der Kosten für Krise und Krieg auf die Beschäftigten organisiert werden. Wir brauchen einen Kurswechsel in den Gewerkschaften: Weg von Sozialpartnerschaft hin zu einer kämpferischen Ausrichtung zur Durchsetzung der Interessen der abhängig Beschäftigten.
Eine Reportage von Valentin Zill zum Warnstreik in Dortmund am 17. November bestätigt: Die Kolleginnen und Kollegen hatten sich gerade warm gelaufen:
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