Vor 150 Jahren wurde die deutsche Gesinnungsjustiz erfunden

Antimilitarismus vor Gericht

Michael Henkes

In diesen Tagen erleben wir, was es bedeutet, wenn die Herrschenden von Frieden reden, im selben Moment aber nach Aufrüstung und „Abschreckung“ schreien und dabei den Krieg im Sinn haben. Wer jetzt eine konsequent antimilitaristische Haltung einnimmt, gerät ins Visier der Kriegstreiber.

Jene, die sich vor 150 Jahren vor dem Leipziger Schwurgericht „verantworten“ mussten, lieferten dafür ein Beispiel. Sie stellten sich Nationalismus und Chauvinismus entgegen und hatten die Konsequenzen zu tragen. Ihr Auftreten vor Gericht ist auch ein Beispiel dafür, wie sich die Manege der bürgerlichen Klassenjustiz in eine Tribüne für die Sache der proletarischen Revolution verwandeln lässt.

Der „Leipziger Hochverratsprozess“ markiert zugleich den Auftakt zur systematischen Verfolgung der sozialistischen Bewegung in Deutschland. Nicht, dass Sozialisten und Kommunisten nicht bereits zuvor ins Visier der Herrschenden gerieten – etwa im Kölner Kommunistenprozess 1852. Mittlerweile lagen die Dinge zuungunsten der Reaktion indes anders: Die revolutionäre Sozialdemokratie wurde zu einer unmittelbaren Bedrohung für die Pläne des preußisch-deutschen Militarismus. Die anlaufende Industrielle Revolution verschaffte den Herrschenden in Preußen-Deutschland einerseits eine nie dagewesene ökonomisch-militärische Potenz, machte sie aber andererseits in zunehmendem Maß abhängiger von einer „ruhigen Heimatfront“. Vor allem die an Organisiertheit und damit Schlagkraft gewinnende Arbeiterbewegung wurde damit zur realen Gefahr. Wenn auch die Kommune von 1871 niedergeschlagen wurde – den Herrschenden war vollauf bewusst, was hier die Bühne der Weltgeschichte betreten hatte. Es war Otto von Bismarck selbst, der 1878 bekundete, durch die Rede August Bebels zur Pariser Kommune im Reichstag habe er „in den sozialdemokratischen Elementen einen Feind erkannt, gegen den der Staat, die Gesellschaft sich im Stande der Nothwehr befindet“. Die sechs Jahre nach dem Leipziger Prozess eingeführten „Sozialistengesetze“ waren dessen verschärfte Fortsetzung.

Am 11. März 1872 wurde der „Leipziger Hochverratsprozess“ gegen Bebel und Wilhelm Liebknecht sowie den Parteizeitungsredakteur Adolf Hepner eröffnet. Zwei Jahre zuvor hatten sich Liebknecht und Bebel in den Abstimmungen um die Bewilligung der Kriegskredite im Reichstag des Norddeutschen Bundes zweimal enthalten. Mit dem Kredit sollte der Krieg des Bundes unter der Führung Preußens gegen Frankreich finanziert werden. Der Krieg, der – ungeachtet der Bestrebungen des preußischen Junkertums – zunächst defensiven Charakter hatte, entwickelte sich rasch zu einem reaktionären Raub- und Eroberungsfeldzug Preußens. Ein nationalistischer – von der Presse befeuerter – Taumel ergriff die deutschen Staaten, der jeden hinwegzufegen drohte, der sich widersetzte.

Es waren die Vertreter der internationalen Arbeiterbewegung, organisiert in der Internationalen Arbeiter­assoziation, die Widerstand leisteten. In Deutschland standen dabei Bebel und Liebknecht in vorderster Reihe. Sie propagierten im Reichstag den Verzicht auf jedwede Annexionen und forderten Frieden. Geantwortet wurde ihnen mit tobenden Zwischenrufen, Anschlägen auf ihre Wohnungen und Verhaftung. „Landesverrat“ lautete zunächst der Vorwurf. Wer sich der Annexion Elsass-Lothringens widersetze, der stelle sich gegen die Nation und begehe damit Landesverrat. Die Herrschenden sperrten Bebel, Liebknecht und Hepner am 17. Dezember 1870 ein und verboten die Parteizeitung sowie öffentliche Versammlungen zu den Annexionsplänen.

Der Sieg über Frankreich bedeutete aber nicht das Ende der Verfolgung. Auch wenn die drei im März 1871 zeitweilig freigelassen wurden, waren sich die Herrschenden angesichts der Pariser Kommune einig: Es brauche einen Prozess, der die „Gefährlichkeit“ der Sozialdemokratie entlarve und zugleich ihre populärsten Anführer in Festungshaft bringe. Bismarck drängte darauf, ein Exempel zu statuieren. „Landesverrat“ war in Ermangelung eines Krieges als Anklage hinfällig, „Hochverrat“ musste es sein. Der setzte das Ziel der gewaltsamen Beseitigung der Reichsdeutschen Verfassung voraus. Dementsprechend durchforstete die Anklage jedes Material, das ihr in die Finger kam, nach den Begriffen „Revolution“, „Gewalt“ und dergleichen und sie versuchte, den Angeklagten in antikommunistischer Manier putschistische Gewaltbestrebungen nachzuweisen. Die wiederum entgegneten, es sei das eine, einen Putsch anzustreben, das andere sei, eine vom Volk getragene Revolution zu führen. Man strebe keinen gewaltsamen Kampf an, die Gewaltfrage hänge vom Widerstand des Klassengegners ab.

Während die Justiz der ihr von Bismarck aufgetragenen Klassenaufgabe nachging, nutzten vor allem Bebel und Liebknecht den Gerichtssaal als Bühne für die Sache der Sozialdemokratie. Dem Prozess wurde national wie international – vor allem natürlich seitens der Arbeiterbewegung – große Aufmerksamkeit zuteil. Die Angeklagten nahmen die Gelegenheit wahr, die Öffentlichkeit über die Geschichte und Programmatik der deutschen und internationalen sozialistischen Bewegung aufzuklären. Das Gericht trug das Seine dazu bei, indem es etliche programmatische Dokumente der Internationale in vollem Umfang verlas. Damit, spätestens aber durch die legale Veröffentlichung etlicher sozialistischer Materialien in Form von Gerichtsprotokollen, bekamen die Positionen der revolutionären Sozialdemokratie eine nie dagewesene Öffentlichkeit.

Den Anklägern gelang es nicht, konkrete Putschpläne nachzuweisen. Sie bedienten sich stattdessen eines hanebüchenen Konstrukts der Klassenjustiz, das von da an zu einem bevorzugten Verfolgungsinstrument der Herrschenden wurde: Mangels eines tatsächlich nachweisbaren Versuchs einer Straftat sollte die innere Haltung der Angeklagten als Ersatz herhalten. Die Gesinnungsjustiz war geboren.

Hepner wurde schließlich freigesprochen; Bebel und Liebknecht erhielten jeweils zwei Jahre Festungshaft in der sächsischen Hubertusburg. Im Juli 1872 traten die beiden Arbeiterführer ihre Haft an. Sie nutzten die Haftdauer zum Schreiben und intensiven Studium sozialistischer Schriften. Gebrochen wurden sie nicht. Bebel schrieb an seine Genossen:

„Seid versichert, die erhaltenen Strafen machen mich nicht mürbe. Die Gesellschaft, die zu solchen Methoden der Belehrung greifen muss, verdient, dass sie aufhört zu existieren.“

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"Antimilitarismus vor Gericht", UZ vom 18. März 2022



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