Vor 50 Jahren berieten Kommunalpolitiker aus Ost und West über die Lehren aus Krieg und Faschismus

Antifa heißt Kreisreform!

Im August 1954 fand in Dresden die Zweite Gesamtdeutsche Kommunale Arbeitstagung statt. Damals stand in Westdeutschland die Wiederbewaffnung auf der Tagesordnung der politischen Debatte – mit ähnlich scharfen Tönen, wie wir sie heute hören. Dennoch wurde unter anderen Vorzeichen diskutiert. Denn der Zweite Weltkrieg und der Sieg über den Faschismus lagen noch nicht lange zurück. Die Kriegsschäden in der kommunalen Infra­struktur waren noch nicht vollständig repariert. In dieser Situation also trafen sich Kommunalpolitiker aus Ost und West, um zu einer Verständigung zu kommen und gemeinsame Aufgaben zu bestimmen. Ihr Hauptziel formulierte der damalige Oberbürgermeister von Groß-Berlin, Friedrich Ebert junior: die „Lösung der deutschen Frage friedlich – ohne Krieg – zu ermöglichen“.

Ebert, der in der Kommunalpolitik der DDR noch eine wichtige Rolle spielen und später der erste Präsident des Deutschen Städte- und Gemeindetags werden sollte, hielt eine bemerkenswerte Rede. Er ging auf die Beschlüsse des Potsdamer Abkommens vom 2. August 1945 ein. Darin hieß es „Der deutsche Militarismus und Nazismus werden ausgerottet“, das politische Leben müsse „auf demokratischer Grundlage umgestaltet“ werden. Die Wirtschaft sollte „mit dem Ziel der Vernichtung der bestehenden übermäßigen Konzentration der Wirtschaftskraft“ dezentralisiert werden. Diese Aufgaben und die Lehren aus dem Kampf gegen Krieg und Faschismus machte er in seiner Rede zur Richtschnur einer fortschrittlichen Kommunalpolitik. Er führte aus, „dass die Verwaltung in der Gemeinde auf die allerbreiteste Basis gestellt werden muss. Die Verwaltung der Gemeinde darf nicht ein Ding an sich sein, das im luftleeren Raum über dem Volk schwebt. Die Gemeinde muss ein lebendiger Teil des zu einem neuen Leben in Demokratie und Frieden strebenden Volkes werden.“

Er schrieb der Kommune also eine wichtige demokratische Funktion zu, hielt die aktive Mitwirkung der Bevölkerung an der lokalen Entwicklung für einen zentralen Baustein beim Aufbau einer friedlichen, antifaschistischen Ordnung. Als wesentliches Element dafür benannte er eine Strukturreform aus dem Jahr 1952, mit der die Kreisaufteilung aus dem Kaiserreich überwunden werden sollte. Dabei entstanden in der DDR 217 Landkreise, zuvor waren es noch 132 gewesen. Das diente einerseits der Steuerung der Wirtschaft, andererseits rückte die Verwaltung so näher an die Bürger heran. Es ist kein Zufall, dass unter „Strukturreformen“ in der heutigen Bundesrepublik stets das Gegenteil verstanden wird: der Abbau von Kreisen und die Zusammenlegung von Gemeinden.

„Der entscheidende Schritt zur weiteren Demokratisierung“ bestand laut Ebert darin, „dass die werktätige Bevölkerung zur ständigen und verantwortlichen Mitarbeit“ herangezogen werde. „Diese Demokratie unterscheidet sich ganz wesentlich von jener, in welcher der Wähler nur das Recht hat, alle vier Jahre einmal einen Stimmzettel abzugeben, aber nicht einmal berechtigt ist, dem von ihm gewählten Abgeordneten Aufträge zu übergeben.“

Dieses Bewusstsein von der Wichtigkeit der Kommunalpolitik war zu dieser Zeit in der DDR weit verbreitet. Zwischen 1956 und 1957 wurden zwei Gesetze öffentlich beraten: „Über die örtlichen Organe der Staatsmacht“ und „Über die Rechte und Pflichten der Volkskammer gegenüber den örtlichen Vertretungen“. Trotz der trockenen Titel war das öffentliche Interesse gewaltig. An den Diskussionsveranstaltungen zu diesen Gesetzen nahmen insgesamt rund 4,5 Millionen Menschen teil. Es gab mehr als 10.000 Änderungsvorschläge. Durch den Beschluss erhielten die Gemeinden ein Einspruchsrecht gegenüber übergeordneten Behörden. Und die lokale Wirtschaft, die Ämter und andere Institutionen wurden verpflichtet, mit den Volksvertretungen in den Gemeinden zusammen zu arbeiten. In dieser Zeit wurde auch die Zahl der kommunalen Abgeordneten erhöht, von 113.000 auf 200.000. Für die örtlichen Volksvertretungen wurde ein ständiger Ausschuss eingerichtet, der bei der obersten Volksvertretung angesiedelt war. Zum Vorsitzenden wurde Hermann Matern ernannt, der auch Vorsitzender der Zentralen Parteikontrollkommission des Zen­tral­komitees der SED war – ein kleiner Trick, um das Verhältnis zur Zentrale auszubalancieren. Zu Reibungsverlusten und Problemen in eben diesem Zusammenwirken kam es in den folgenden Jahrzehnten dennoch.

Eberts Bemühen um eine Kommunalpolitik mit antifaschistischem und demokratischem Charakter wurde auch später noch gewürdigt. In einem Aufsatz von Norbert Podewin im Handbuch „Die SED. Geschichte – Organisation – Politik“ aus dem Jahr 1997 heißt es: „Die konsequente Verwirklichung der Beschlüsse der Potsdamer Konferenz (…) schuf hier zum ersten Mal in der Geschichte Deutschlands die Möglichkeit einer Kommunalpolitik frei von hegemonialen Einsprüchen des Junkertums und der Großindustrie.“

Im Westen Deutschlands nahm die Geschichte einen anderen Lauf. Die kommunale Selbstverwaltung stand von Anfang an unter Beschuss, obwohl sie im Grundgesetz garantiert wurde. Schaut man sich heute die Rede an, die der Stadtverordnete Fritz Müller aus Offenbach (Main) auf der Tagung 1954 hielt, dann scheint sie merkwürdig modern. Er beklagte die mangelnden finanziellen Möglichkeiten der Gemeinden, die Sparzwänge und den Drang zur Privatisierung von Aufgaben. Für Sozialeinrichtungen, Wohnungsbau, Kultur fehlte es an Geld. Die kommunalen Versorgungsunternehmen, beklagte er, wurden den gleichen Steuergesetzen und Abgaben unterworfen wie die Privatwirtschaft – dabei war ein beträchtlicher Teil der Infrastruktur noch nicht wieder aufgebaut.

„Wer sich in Westdeutschland mit der kommunalpolitischen Entwicklung befasst, erkennt oder ahnt zumindest, dass diese einer Krise zutreibt. Die Ursache dafür ist, dass der westdeutsche Staat keinerlei Rücksicht auf die Interessen der Gemeinden nimmt.“ Er hat unsere Situation vorausgesehen.

490802 Ebert Kasten - Antifa heißt Kreisreform! - Antifaschismus, Berlin, DDR, Friedrich Ebert junior, Kommunalpolitiker, Oberbürgermeister - Kommunalpolitik

Vor 45 Jahren, am 4. Dezember 1979, starb Friedrich Ebert junior. Er war der Sohn des gleichnamigen (SPD-)Reichspräsidenten. Während der Weimarer Republik war Ebert junior Mitglied der SPD und von 1928 bis zum Jahr 1933 Mitglied des Reichstags. Anschließend wurde er für acht Monate in verschiedenen Konzentrationslagern, unter anderem in den KZ Oranienburg und Börgermoor, eingesperrt. Bis zum Jahr 1945 stand er unter Polizeiaufsicht. Im Jahr 1946 wurde er Landesvorsitzender der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) in Brandenburg. Von 1949 bis zu seinem Tod war er Mitglied des Politbüros und des Zentralkomitees der SED. Von 1948 bis 1967 war Ebert Oberbürgermeister von Berlin und widmete sich dem Aufbau der zerstörten Stadt. In seine Zeit fielen der Wiederaufbau des Brandenburger Tors, des Roten Rathauses und der Staatsoper Unter den Linden. Im Jahr 1967 wurde Ebert als Ehrenbürger von Berlin aufgenommen. Die Ehrung wurde 1992 im Zuge der Konterrevolution gestrichen. Ebenso wurde eine nach ihm benannte Straße in Potsdam auf seinen Vater umgewidmet.

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"Antifa heißt Kreisreform!", UZ vom 6. Dezember 2024



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