Manfred Weißbecker (Hg.)
Anstöße – Erträge – Spiegelungen
Ein Lesebuch von und für
Friedrich-Martin Balzer
Marburg 2015, Selbstverlag
ISBN 978–300-051009–0
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www.friedrich-martin-balzer.de
Wenn Manfred Weißbecker ein Buch herausgibt, dann bedarf es keiner Empfehlung – erst recht nicht, wenn es sich um „Ein Lesebuch von und für Friedrich-Martin Balzer“ handelt. Dieser über 400 Seiten starke Band zu Balzers 75. Geburtstag ist weit mehr als eine Festschrift. Er ist ein Opus, in dem Geschichte versammelt ist, präsentiert und repräsentiert von Autoren, die großteils zu den namhaftesten Protagonisten nicht nur der deutschen Linken zählen – insgesamt 23 Namen, deren biographische Daten hineinführen in die politischen und ideologischen Auseinandersetzungen des 20. und des sich nunmehr formierenden 21. Jahrhunderts. Natürlich ist es auch die Vielzahl an Autoren, die dieses Lesebuch so lesenswert macht, vor allem aber ist es das breite Spektrum an Erfahrungen, Überzeugungen und Einsichten, das diesen Band zu einem zeitgenössischen Panorama werden lässt. „Anstöße – Erträge – Spiegelungen“ lautet sein Haupttitel, der sich nachgerade als ein literarisches Triptychon ausweist.
Auf der ersten Tafel sind Texte von Autoren eingestellt, die im Diskurs der Linken eine geradezu normative Kompetenz verbürgen: Wolfgang Abendroth, Erwin Eckert, Gert Wendelborn, Helmut Ridder, Hans Heinz Holz, Peter Römer, Eric Hobsbawm. Zur Sprache kommt ein breites Themenfeld, das Politisches, Soziologisches, Philosophisches und auch Kirchengeschichtliches umfasst und in einem gemeinsamen cantus firmus verbunden ist, der auf die Frage nach Krieg und Frieden, nach Faschismus und Antifaschismus, nach Irrationalität und Rationalität und nach einer demokratischen Gesellschaft ausgerichtet ist, die diesen hehren Namen erst verdient, wenn sie mit „revolutionärer Konsequenz“ von einer „radikalen Orientierung im Kampf gegen soziale Unterdrückung und imperialistischen Krieg“ bestimmt ist – so der Theologe Wendelborn in einem seiner beiden erstveröffentlichten Beiträge (S. 85). Doch eine solche Gesellschaft scheint gegenwärtig so realitätsentrückt zu sein, dass es den Historiker Hobsbawm zu der deprimierenden Feststellung treibt. „Meine geschichtliche Erfahrung sagt mir, dass wir uns – ich kann das nicht ausschließen – auf eine Tragödie zu bewegen. Es wird Blut fließen, mehr als das, viel Blut, das Leid der Menschen wird zunehmen, auch die Zahl der Flüchtlinge. Und noch etwas möchte ich nicht ausschließen: einen Krieg, der dann zum Weltkrieg werden würde – zwischen den USA und China … Die Barbarei schreitet voran.“ (S. 129)
Die zweite Tafel, das Zentrum des Triptychons, steht ganz im Zeichen der exzellenten Studien und Referate von Friedrich-Martin Balzer. Neben acht Erstveröffentlichungen sind es ausgewählte Aufsätze aus den Jahren 2002 bis 2013. Auch hier imponiert die Themenbreite und Balzers Fähigkeit, selbst die komplexesten Zusammenhänge so zu durchdringen, dass sie dem Leser anschaulich werden – ganz abgesehen von jener sprachlichen Klarheit und methodologischen Stringenz, die dem Historiker wie selbstverständlich zur Verfügung stehen. Und natürlich treten nun auch wieder die großen Namen der ersten Tafel auf, und Balzers Texte zu Abendroth, Holz und Hobsbawm sind nicht minder lesenswert als die „Anstöße“ dieser Vordenker. Um sie hat sich Balzer in vielfacher Weise verdient gemacht und 2011 mit unglaublichem Aufwand und höchster Akribie eine Holz-Gesamtbibliographie auf CD zusammengestellt, die 2 560 Titel und 500 publizistische Beiträge im Volltext und sogar die Recherche enthält, dass Holz‘ Veröffentlichungen weltweit bereits in mehr als 6 000 Bibliotheken inventarisiert sind. Auch Hobsbawms Bibliographie der deutschen Schriften verdanken wir Balzer, dessen Nachruf auf den großen Historiker mit den beinahe beschwörenden Worten schließt: „Bleibt die Hoffnung, dass Hobsbawm sich in seiner düsteren Prognose über einen eventuell nicht auszuschließenden großen Weltbrand irren wird.“ (S. 251)
Der Kreis jener, die in der zweiten Tafel im Fokus stehen, ist freilich weit größer: Klaus Fuchs, Walter Ruge, Heinz Düx, Emil Fuchs, Klaus Fuchs-Kittowski und, auch zusammen mit Heinz Kappes, Erwin Eckert, der entschieden antikapitalistische und antifaschistische Pfarrer, der aufgrund seiner kompromisslosen Haltung als religiöser Sozialist 1931 zunächst aus der SPD ausgeschlossen und, nachdem er sich der KPD angeschlossen hatte, auch aus dem Kirchendienst fristlos entfernt wurde – von den Faschisten wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ zu fast vier Jahren Zuchthaus und dann zu Polizeiaufsicht verurteilt. Die drei Beiträge zu Eckert, der nach der Befreiung bis zum Verbot der KPD als Landtagsabgeordneter tätig war und sich hernach an herausragender Stelle in der internationalen Friedensbewegung engagierte, sind nur ein kleiner Einblick in das umfangreiche OEuvre, das Balzer über die Jahre diesem außergewöhnlichen Mann gewidmet hat. „In Eckerts Lebensweg und in seinem revolutionären Wirken bündeln sich in besonderer Weise Spannungsfelder und Entscheidungsmöglichkeiten der jüngeren Geschichte: Seinem Wahlspruch ‚Dem Ganzen dienen, sich selbst treu bleiben‘ folgend, überwand Eckert Schranken, die vielen seiner Zeitgenossen unüberwindbar blieben.“ (S. 325) Mit diesem Resümee stellt Balzer das Erbe Eckerts sehr bewusst auch in die Spannungsfelder unserer gefährdeten Gegenwart und lässt es so zu Mahnung und Weckruf werden.
Die dritte Tafel schließlich vereint als „Spiegelung“ sechzehn Beiträge, die auf das umfassende Werk Balzers und als Rezensionen auf bestimmte Veröffentlichungen Bezug nehmen. Unter den Autoren finden wir u. a. die Namen von Renate Riemeck, Hanfried Müller, Kurt Pätzold, Thomas Metscher, Robert Steigerwald, Georg Fülberth. Gespiegelt werden hier nicht nur die Arbeit des Historikers Balzer, sondern all jene historische Persönlichkeiten, die nicht nur für Balzer im eigenen biographischen Radius standen. So wird Balzer in diesem Triptychon geradezu zu einem Scharnier, das die Tafeln verbindet – personell und in jeder Beziehung in einem Engagement, das sich mutig, entschlossen und klug dem antiimperialistischen Kampf für Frieden und Gerechtigkeit verschrieben hat. Und so schreibt denn auch Manfred Weißbecker in seinem Vorwort: „FMB, wie oftmals in kürzester Form zu lesen ist, oder Martin, wie ihn Freunde und Bekannte nennen, lässt sich vom Wissen um die unabweislich wahrzunehmende Verantwortung jedes Einzelnen in und für die Gesellschaft leiten. Wer handeln will, für den kann es kein Beharren bei bloßer Betrachtung der Dinge geben, der muss, um verändernd eingreifen zu können, Zusammenhänge analysieren und Ursachen erklären, Der muss Ross und Reiter benennen, die Triebkräfte des historischen Prozesses erforschen sowie zu den ökonomischen, politischen, sozialen und geistigkulturellen Wurzeln bestehender Verhältnisse vorstoßen.“ (S. 9 f.) Und all das tut Friedrich-Martin Balzer in vorbildlicher Weise. Allein schon deshalb ist dem hier angezeigten Buch eine große Leserschaft zu wünschen.