Die Flüchtlingspolitik der ungarischen Regierung beherrscht sowohl die Debatte im Land als auch das Verhältnis zwischen Ungarn und den EU-Institutionen. Ungarn rechnet im Jahre 2015 mit 130 000 illegalen Grenzübertritten. Wie es heißt, seien 54 000 Flüchtlinge bereits „aufgegriffen“ worden. Nach Spanien habe man die höchste Flüchtlingsquote pro Einwohner in der EU. Mitte Juni rechne man damit, dass Österreich und Deutschland weitere rund 15 000 Flüchtlinge, die über Ungarn in diese Länder gelangt sind, nach Ungarn zurücksenden werden.
Parteivertreter und Regierung heizen die Debatte um die Flüchtlingsströme bewusst an, um von anderen gesellschaftlichen Problemen abzulenken. Der hohe Grad an Demagogie, den diese Debatte erreicht hat, wird deutlich, wenn man Aussagen des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán miteinander vergleicht. „Die Menschen des Islam sind für uns keine Bedrohung, wir begrüßen sie als Vertreter einer entwickelten Zivilisation und schämen uns nicht, von ihnen zu lernen.“ Und weiter: „In unserem Land regiert die Kultur des Respekts.“ Das sagte Orbán bei einem Treffen der Internationalen Vereinigung Arabischer Banken (IABS) Anfang Juni in Budapest. Den Banken, so Orbán, stünden in Ungarn „so gut wie keine rechtlichen Schranken für Investitionen“ im Wege.
Zu anderem Anlass und vor anderem Publikum erklärte der Ministerpräsident in den Wochen davor: „Wir wollen nicht, dass weitere Einwanderer nach Ungarn kommen. Jene, die hier sind, müssen zurückgeschickt werden“. „Multikulturalismus bedeutet das Zusammenleben von Menschen mit verschiedenen kulturellen Wurzeln – z. B. dem Islam (…). Wir müssen alles versuchen, um Ungarn das zu ersparen.“ Die ungarische Regierung kennt verschiedene Wahrheiten – je nachdem, ob sie Investoren umwerben oder die Bevölkerung für ihre Politik der rassistischen Spaltung gewinnen will.
Die Flüchtlingsdebatte wird am Kochen gehalten, sowohl in Ungarn als auch in der EU und ihren Mitgliedstaaten, weil man damit die Folgen der sich zuspitzenden allgemeinen Krise des Kapitalismus überdecken und aus dem Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit verdrängen kann, die sich im ökonomischen Verfall und in den wachsenden sozialen Nöten der Bevölkerung sowie in internationalen Konflikten und kriegerischen Auseinandersetzungen äußern.
In dieser Logik liegt auch die Erklärung des Stellvertreters von Viktor Orbán in der Regierungspartei FIDESZ, Lajos Kosa, in der vergangenen Woche, wonach „noch vor der Sommerpause strengere Gesetze gegen die Einwanderer (gemeint sind die Flüchtlinge, die Ungarn zumeist als Transitland benutzen) zu erlassen“ sind. Damit sollen die Polizei und andere Sicherheitsorgane dazu ermächtigt werden, „jeden Ankömmling, der über sichere Länder einreist, sofort zurückzuschicken“. Dabei bezieht sich die ungarische Seite ausdrücklich nicht auf die Dublin-Regeln der EU, sondern überlässt den genannten ungarischen Behörden bzw. dem ungarischen Gesetzgeber die Definition eines „sicheren Landes“.
Damit wird das bisherige Asylverfahren, das auch in internationalen Verträgen verankert ist, für Ungarn aufgehoben werden. Es widerspricht auch der Beschlusslage der EU. Entsprechend der Ankündigung von Lajos Kosa könnten dann Asyl „nur noch Menschen beantragen, die von Orten kommen, die nicht auf der Liste sicherer Länder stehen“.
Zunehmend wird in der ungarischen Öffentlichkeit auch darüber diskutiert, dass die Regierung Ungarns beabsichtige, einen Grenzzaun entlang der serbischen und rumänischen Grenze zu errichten. Die Regierung dementierte zwar, „einen Zaun zu errichten“. Man werde „die Menschen einfach am Grenzübertritt hindern“. Kurz darauf soll die österreichische Innenministerin angekündigt haben, dass das EU-Land Österreich 40 Polizisten nach Ungarn schicken wolle, um bei der Sicherung der ungarisch-serbischen Grenze Unterstützung zu leisten.