Mehrere Unbewaffnete knien im Freien nieder. Sie flehen um Gnade, um dann doch von Kämpfern der Hai’at Tahrir asch-Scham (HTS) erschossen zu werden. Dies ist nur eins von zahlreichen Videos, die dieser Tage in den „sozialen“ Medien kursieren. In einem weiteren Mitschnitt dringen Bewaffnete in ein Krankenhaus ein. Sie behaupten, die schwer Verletzten seien Soldaten der syrischen Armee. Trotz ihrer Dementis werden auch sie nacheinander erschossen. Während man sich im Westen vor „Hoffnung“ auf eine demokratische, auf Basis der Menschenrechte errichtete neue Ordnung in Syrien überschlägt und sich der Chef der HTS, der sich jetzt mit bürgerlichem Namen ansprechen lässt, als Geläuterter gibt, sieht die Realität anders aus: seit dem Sturz der Regierung von Baschar al-Assad werden vielerorts Minderheiten verfolgt und getötet.
Menschen fliehen in Todesangst, weil sie – allein aufgrund ihrer religiösen Zugehörigkeit – als Assad-nah für vogelfrei erklärt werden könnten. In Syrien, das über Jahrzehnte als leuchtendes Beispiel für das friedliche Zusammenleben unterschiedlicher Ethnien und Konfessionen galt, haben Kräfte die Macht übernommen, die nicht umsonst auf der UN-Terrorliste stehen. In Idlib haben sie ihre „Vision“ vorgelebt: Frauen, die das Haus nicht ohne männliche Begleitung und Schleier verlassen durften, wurde kein Wahlrecht zugestanden. Christen, Alawiten und Drusen haben sie lediglich mit minderen Rechten ausgestattet, man zwangskonvertierte, enteignete und vertrieb sie. Folter von Journalisten und Andersdenkenden war an der Tagesordnung, Todesurteile wurden ohne Gerichtsverfahren vollstreckt. Kinder wurden als menschliche Schutzschilde, Selbstmordattentäter oder Soldaten eingesetzt.
Während sich seit der Machtübernahme dschihadistischer Milizen in Syrien eine große Anzahl aus Syrien Geflüchteter aus der Türkei und dem Libanon auf den Rückweg in die Heimat macht, findet zugleich ein Massenexodus aus Syrien heraus statt. Mit Stand 13. Dezember sind nach Angaben der libanesischen Zeitung Al-Akhbar rund 90.000 Syrer in den Libanon geflüchtet. Vor dem jüngsten israelischen Krieg gegen den Libanon, in dessen Zuge eine halbe Million Syrer zurück in ihr Heimatland floh, lebten 1,5 Millionen syrische Schutzsuchende im Zedernstaat. Nur etwas mehr als die Hälfte von ihnen war allerdings offiziell erfasst, da die Registrierung im Jahr 2015 beendet wurde. Im Zuge der seit 2019 andauernden schweren Finanz- und Wirtschaftskrise wurde die Versorgung der Flüchtlinge immer schwieriger. 90 Prozent von ihnen leben in extremer Armut.
Nach der Machtübernahme der HTS und mit ihr verbündeter Terrorgruppen in Syrien, mit dem der Libanon historisch eng verbunden und dessen engster Handelspartner er ist, machen sich alte Ängste breit. Schon 2014, als der so genannte Islamische Staat (IS) große Teile Syriens und des Irak überrannte und sein „Kalifat“ errichtete, fürchteten insbesondere die religiösen Minderheiten, darunter Christen und Drusen, aber auch die schiitische Mehrheit Libanons, ein Überschwappen der extremistischen Ideologie und von ihren Verfechtern begangene Verbrechen. Das war – neben der Sicherung der eigenen Waffen-Nachschubwege – der Hauptantrieb für die Intervention der Hisbollah in der frühen Phase des Syrienkriegs. Deren Generalsekretär Hasan Nasrallah sprach im Mai 2013, während der strategisch höchst bedeutenden Schlacht um die syrische Grenzstadt Kusseir, von einer „existentiellen Gefahr“, die in Syrien aktive dschihadistische Gruppen für den Libanon darstellten. Diese würden, sobald sie die Kontrolle über das Nachbarland innehätten, nicht nur die Hisbollah und die schiitische Bevölkerungsgruppe im Libanon, sondern das gesamte Land inklusive seiner sunnitischen Bürger bedrohen.
Der Sturz der syrischen Regierung könnte auch die Umsetzung eines zentralen Versprechens der Hisbollah behindern: Nach dem 33-tägigen Krieg Israels gegen den Libanon im Juni 2006 hatte sie, wie zugesagt, zerstörte Häuser und Infrastruktur wieder aufgebaut. Anfang Dezember 2024, kurz nach Inkrafttreten des Waffenstillstands mit Israel, hat sie von Kriegsschäden betroffene Bürger Libanons aufgefordert, die Zerstörungen zu dokumentieren und Rechnungen einzureichen. Dass jetzt die Versorgungswege durch Syrien nicht nur für Waffen, sondern auch für Baumaterialien unterbrochen sind, dürfte das Unterfangen des Wiederaufbaus aber deutlich erschweren.
Schließlich stellt die großflächige Besetzung syrischen Territoriums durch Israels Armee seit dem Sturz der Regierung Assad am 8. Dezember eine erhebliche Gefahr nicht nur für die Hisbollah, sondern für den gesamten Libanon dar. Der Zedernstaat ist faktisch umzingelt – von radikalen Gruppen, die auch heute noch versuchen könnten, ihre Kontrolle auf den Libanon auszuweiten, und von Israel, dessen rechtsradikale Regierung offenbar immer offensiver ihren Traum von einem Großisrael vorantreibt, das neben Teilen Syriens, Jordaniens, des Irak, Ägyptens und Saudi-Arabiens auch den Libanon umfassen würde.