Am 18. Mai 1848 nahm die deutsche Nationalversammlung in Frankfurt am Main ihre Arbeit auf. Marx und Engels begleiteten sie in der „Neuen Rheinischen Zeitung“

Angst vor jeder Volksbewegung

Vier Tage soll das „Paulskirchenfest“ dauern, das die Stadt Frankfurt am Main ab dem 18. Mai veranstaltet. Anlass ist der 175. Jahrestag des Zusammentretens der deutschen Nationalversammlung. Der Bundespräsident wird eröffnen, es gibt den üblichen Eventrummel und eine „Ode an die Demokratie“ am Mainkai. Man darf gespannt sein, ob mehr drin ist als bei den jährlichen staatlichen Versuchen am 3. Oktober, das Wahlvolk mit heroisierenden Reden über den DDR-Anschluss – die größte antidemokratische Enteignungs- und Plünderungsaktion der vergangenen Jahrzehnte – plus Bratwurstvertilgung zu begeistern. Prognose: Das klappt nicht. Die Mehrheit der Bevölkerung ist nicht davon abzubringen, dass die Wahrheit der proklamierten Demokratie im kapitalistischen Alltag liegt.

Bei allen Unterschieden zwischen 1848 und heute: Diese Grundkonstellation spielte damals schon eine Rolle, jedenfalls in den Texten zur Nationalversammlung von Marx, Engels und ihren Genossen in der „Neuen Rheinischen Zeitung“, die sie „Organ der Demokratie“ genannt hatten. Dies war die Zeitung nicht „im Sinne irgendeiner parlamentarischen Linken. Nach dieser Ehre geizte sie nicht, vielmehr hielt sie die Überwachung der Demokratie für dringend notwendig“, wie Franz Mehring 1918 in seiner Marx-Biographie schrieb.

Leitfaden im Umgang mit der Nationalversammlung war das „Kommunistische Manifest“: Die revolutionäre Bewegung sollte vorangetrieben werden – „so wie sie nun einmal war“. (Mehring). Im Manifest heißt es: „Auf Deutschland richten die Kommunisten ihre Hauptaufmerksamkeit, weil Deutschland am Vorabend einer bürgerlichen Revolution steht und weil es diese Umwälzung unter fortgeschrittneren Bedingungen der europäischen Zivilisation überhaupt und mit einem viel weiter entwickelten Proletariat vollbringt als England im siebzehnten und Frankreich im achtzehnten Jahrhundert, die deutsche bürgerliche Revolution also nur das unmittelbare Vorspiel einer proletarischen Revolution sein kann.“ Drei Monate, nachdem das geschrieben worden war, brach das Gebäude des deutschen Feudalregimes, des Deutschen Bundes, unter der Wucht der Pariser Februarrevolution widerstandslos zusammen: Am 13. März in Wien, am 18. März in Berlin. Der historische Irrtum von Marx und Engels war nicht, wie Mehring zum 50. Jahrestag der Revolution schrieb, dass sie einen raschen Fortgang zur proletarischen Revolution erwartet hatten. Vielmehr räumte Marx, so Mehring, in den 1860er Jahren ein, er und Engels hätten „angenommen, die deutsche Bourgeoisie würde im Kampf mit dem Absolutismus und Feudalismus die gleiche Courage beweisen, wie die englische Bourgeoisie in demselben Kampf bewiesen habe“. Die deutsche Bourgeoisie aber habe „immer nur die äußerste Feigheit“ aufgeboten. Entsprechend war und ist ihr Umgang mit dem Jahr 1848: Entweder nicht über die Revolution reden oder sie als Handstreich von Unruhestiftern darstellen, vor denen sich zu hüten auch heute noch erste Staatsaufgabe sei. In Wirklichkeit hatte die noch schwache deutsche Arbeiterklasse den Blutzoll der Märztage gezahlt, blieb der Revolution treu, stellte sich schützend auch vor die Nationalversammlung, war aber bereits am Tag nach den Ereignissen in Berlin von der Bourgeoisie verraten worden: Arbeiter wurden faktisch von der erkämpften Volksbewaffnung ausgeschlossen.

Als Marx und Engels am 11. April aus dem revolutionären Paris in Köln ankamen, waren die Märztage bereits verblasst. Das politische Programm der beiden Rückkehrer lautete: Auflösung Preußens und des österreichischen Staates, Beseitigung der Kleinstaaterei und Einigung Deutschlands als Nation und Republik.

In Preußen hatte aber die Bourgeoisie das Heft wieder in der Hand und schanzte der Monarchie und dem Junkertum die Macht zu. In den Mittel- und Kleinstaaten bestimmten willige liberale Rückgratverbieger die Politik, und die Frankfurter Nationalversammlung, so Mehring 1918, „die aus souveräner Machtvollkommenheit die deutsche Einheit schaffen sollte, erwies sich, sobald sie am 18. Mai zusammentrat, von vornherein als hoffnungsloser Schwatzklub“. „Mit diesem Schattenwesen rechnete die ‚Neue Rheinische Zeitung‘ gleich in der ersten Nummer ab, und zwar so gründlich, dass die Hälfte ihrer wenig zahlreichen Aktionäre den Rückzug antrat“, so Mehring weiter.

Am 7. Juni hieß es in der Zeitung, die sich auf stenographische Mitschriften des Parlaments stützte: „Eine konstituierende Nationalversammlung muss vor allem eine aktive, evolutionär-aktive Versammlung sein. Die Versammlung in Frankfurt macht parlamentarische Schulübungen und lässt die Regierungen handeln. Gesetzt, es gelänge diesem gelehrten Konzil nach allerreifster Überlegung, die beste Tagesordnung und die beste Verfassung auszuklügeln, was nutzt die beste Tagesordnung und die beste Verfassung, wenn die Regierungen unterdes die Bajonette auf die Tagesordnung setzen?“ Es sei unbegreiflich, wie die sogenannte radikal-demokratische Partei „eine Föderation von konstitutionellen Monarchien, Fürstentümchen und Republikchen … als schließliche Verfassung Deutschlands hat proklamieren lassen“.

Die Nationalversammlung aber wählte am 29. Juni den österreichischen Erzherzog Johann zum Reichsverweser und spielte der Konterrevolution in die Hände. Am selben Tag erschien in der „Neuen Rheinischen Zeitung“ einer der gewaltigsten Artikel von Marx überhaupt, in dem er das von der Gegenrevolution in der „Juniinsurrektion“ vom 22. bis zum 26. Juni abgeschlachtete Pariser Proletariat feierte. Der Text kostete, merkte Mehring an, der Zeitung „die andere Hälfte ihrer Aktionäre“.

Die Bourgeoisie ging nun in allen Ländern Europas Bündnisse mit der Reaktion ein. Am 28. März 1849 nahm die Frankfurter Nationalversammlung die erste bürgerliche Verfassung Deutschlands an. Sie verlangte zwar eine stärkere staatliche Zentralisation, aber nicht die Gründung einer einigen demokratischen Republik. Dennoch lehnten die großen deutschen Staaten ab. Als daraufhin Volksmassen für die Anerkennung der Verfassung zu kämpfen begannen, ließ die Bourgeoisie sie im Stich. Insofern steht die Frankfurter Verfassung auch für den Verrat des deutschen Bürgertums an der eigenen Demokratie.

In der Rückschau fielen die Urteile von Marx und Engels über die Nationalversammlung schärfer aus als 1848. Engels schrieb 1852 rückblickend in „Revolution und Konterrevolution in Deutschland“, die Nationalversammlung sei eine Körperschaft gewesen, „so abnorm, so lächerlich schon durch die Stellung, die sie einnahm, und dabei so erfüllt von ihrer eigenen Wichtigkeit, dass die Geschichte höchstwahrscheinlich nie ein Gegenstück dazu liefern wird“. Sie hätte anfangs die Gelegenheit gehabt, den parallel existierenden Bundestag des Deutschen Bundes aufzulösen und eine Bundesregierung einzusetzen, „wenn sie auch nur einen Funken von Energie besessen“ hätte. Aber: „Diese Versammlung alter Weiber hatte vom ersten Tag ihres Bestehens mehr Angst vor der geringsten Volksbewegung als vor sämtlichen reaktionären Komplotten sämtlicher deutscher Regierungen zusammengenommen“. 175 Jahre später hat sich an dieser Konstellation im Wesen nichts geändert.

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"Angst vor jeder Volksbewegung", UZ vom 19. Mai 2023



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