Während des israelischen Kriegs gegen den Libanon wurden bereits 192 Rettungskräfte und Gesundheitshelfer getötet. Das Muster des Gaza-Kriegs, wo Gesundheitseinrichtungen, Krankenhäuser, Ärzte und Gesundheitspersonal gezielt angegriffen werden, setzt sich auch im Libanon fort. Am 14. November wurde das regionale Zivilschutzzentrum in der Stadt Douris in Baalbek getroffen. 13 Menschen verloren bei dem Angriff ihr Leben. Auch in der südlichen Stadt Arabsalim wurden sechs Menschen getötet, fünf von ihnen Sanitäter. Journalisten und Medienhäuser werden ebenfalls seit Wochen attackiert. Und auch kulturelle Stätten geraten regelmäßig ins Visier. Alte Städte und Dörfer in Baalbek, Jabal Amel, Nabatiyeh, Tyrus und den südlichen Vororten Beiruts wurden zerstört und ganze Stadtteile dem Erdboden gleichgemacht. In Tyrus hat die israelische Luftwaffe kulturelles Erbe, das über Jahrhunderte bewahrt worden ist, gezielt zerstört. In Nabatiyeh wurde der historische Markt der Stadt in Schutt und Asche gelegt. In Baalbek traf es archäologische Stätten, die zum UNESCO-Welterbe gehören. Auch 2.000 Jahre alte römische Ruinen in der Nähe der Zitadelle von Baalbek wurden zum Ziel der Zerstörung, die auf die kollektive Geschichte und die Identität des Libanon zielt.
37 Städte ausgelöscht
Mindestens 40.000 Wohneinheiten hat die israelische Luftwaffe laut libanesischer Nationaler Nachrichtenagentur seit dem 8. Oktober 2023 zerbombt, 37 Städte wurden ausgelöscht. Getroffen werden gezielt Wassersysteme, Telekommunikations- und Stromnetze sowie Straßen. Nahezu 80 Prozent der Schäden an libanesischer Infrastruktur entstanden nach dem 2. Oktober 2024. Wie eine Analyse von Satellitenbildern der „Washington Post“ zeigt, sind fast ein Viertel der Gebäude in 25 libanesischen Städten nahe der Grenze beschädigt oder zerstört worden. Jeden Tag wird aus dem Libanon von neuen Massakern berichtet.
Über 1,4 Millionen Menschen sind im Zedernstaat auf der Flucht. Unter den Vertriebenen befindet sich eine hohe Anzahl an Kindern. Die Notunterkünfte sind längst überfüllt, in Schulen oder Bürogebäuden müssen immer neue Zufluchtsorte eingerichtet werden, unzählige Menschen verbleiben dennoch auf der Straße. Hinzu kommt, dass die Wasserversorgung und sanitäre Einrichtungen völlig überlastet sind. Selbst an Wasser zum Waschen mangelt es, die Ausbreitung von Krankheiten droht. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) musste fast die Hälfte der Gesundheitseinrichtungen in vom Konflikt betroffenen Gebieten geschlossen werden.
In Umsetzung der berüchtigten „Dahiyeh“-Doktrin, die im 33-tägigen Krieg von 2006 entwickelt wurde, zielt Tel Aviv darauf, durch Zerstörung und Tod den Preis für die Unterstützung der Hisbollah im Land zu erhöhen, damit sich die Bevölkerung von ihr abwenden möge. Diese Art der Kollektivbestrafung stellt wie schon im Gaza-Krieg einen eklatanten Verstoß gegen internationale Gesetze und Konventionen dar. Am 9. Oktober stellte Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu zum wiederholten Mal ein Ultimatum: Der Libanon könne „Frieden haben, aber nur, wenn sich das Volk gegen die Hisbollah erhebt“. Der inzwischen wegen mangelnder Bereitschaft, den Krieg gegen den Gazastreifen fortzuführen, entlassene Verteidigungsminister Joav Galant hatte im Juni gedroht, man werde den Libanon „in die Steinzeit zurückversetzen“. Auch die Vertreibung und Entwurzelung der Bevölkerung und gezielt derjenigen, denen eine Nähe zur Hisbollah unterstellt wird, stellen Teile des Versuchs dar, die Bevölkerung gegen die Hisbollah aufzubringen. Unterstützt wird diese Kampagne von den USA – nicht nur in Form von Waffenlieferungen.
USA wollen Regime-Change
Man müsse sich „auf die Zeit nach dem Ende der Hisbollah“ vorbereiten, „in der ihre Kontrolle über den Staat und seine Institutionen sowie über die Grenzen des Staates nicht länger geduldet“ sei. Das sagte die US-amerikanische Botschafterin im Libanon, Lisa Johnson, Anfang Oktober in Richtung der politischen Kräfte im Libanon. Die Hisbollah sei „nach den gezielten Angriffen, bei denen ihre Anführer ins Visier genommen und ihr Generalsekretär getötet wurde, sehr geschwächt“. Daher könne sie ihre Ziele nicht mehr durchsetzen. Diese Äußerung steht symbolisch für die von Washington verfolgte Politik: nachdem noch am 25. September US-Präsident Joseph Biden und der französische Präsident Emmanuel Macron offiziell einen dreiwöchigen Waffenstillstand zwischen Israel und der Hisbollah vorgeschlagen hatten, erklärte der Sprecher des US-Außenministeriums, Ned Price, am 9. Oktober, man setze sich nicht mehr für ein Schweigen der Waffen ein. Vielmehr unterstütze die US-Administration die israelische Fortsetzung des Kriegs. Am selben Tag berichtete das „Wall Street Journal“ unter Berufung auf namentlich nicht genannte US-amerikanische Regierungsbeamte, man wolle die israelische Offensive dazu nutzen, die Hisbollah niederzuringen und eine neue libanesische Regierung mit einem proamerikanischen Präsidenten wählen zu lassen.
Schon seit vielen Jahren nutzen die USA finanzielle Hilfen, Sanktionen sowie an Bedingungen geknüpfte Militärhilfen, um im Libanon ihre geopolitischen Interessen durchzusetzen. Seit Beginn des aktuellen Kriegs haben die Einmischungsversuche Washingtons in innerlibanesische Angelegenheiten erheblich zugenommen. So lobbyierte man gemeinsam mit Botschaftern arabischer Staaten für einen Verbleib der libanesischen Sicherheits- und Armeeführung, obwohl ihre Amtszeit bereits ausgelaufen war. Washington forderte die libanesischen Parlamentsblöcke in klarem Widerspruch zur Position des geschäftsführenden Premierministers Nadschib Mikati auf, ein Gesetz zu erarbeiten und zeitnah abzustimmen, das die Amtszeit des von den USA unterstützten Armeechefs Joseph Aoun um ein Jahr verlängern würde.
Hetze gegen Hisbollah
In den vergangenen Jahren hat Washington mehrere bedeutende Wirtschaftsprojekte verhindert, die den Zedernstaat dem US-amerikanischen Einfluss zumindest minimal hätten entziehen können. Und im aktuellen Krieg gerät selbst humanitäre Hilfe ins Visier: Anfang November verhinderte die US-Botschaft im Libanon die Einrichtung einer humanitären Luftbrücke zwischen Bagdad und Beirut. Stattdessen dürften Hilfsgüter nur über Jordanien geliefert werden und müssten zuvor inspiziert werden. Berichten zufolge drohte Washington der libanesischen Fluggesellschaft Middle East Airlines (MEA), der einzigen, die den Libanon noch anfliegt, mit Sanktionen, würde sie durch die Pager- und Walkie-Talkie-Angriffe Verletzte ausfliegen.
Das Ziel Tel Avivs und Washingtons ist die Vernichtung der Hisbollah. Aber es geht auch um Regime-Change, für den ein erneuter Bürgerkrieg in Kauf genommen wird, weil große Teile der politischen Führung wie auch der Bevölkerung weiterhin hinter der Hisbollah stehen, die im Jahr 2000 das Ende der israelischen Besatzung herbeigeführt und die israelische Armee im Jahr 2006 zum Abzug gezwungen hat. Ende Oktober berichtete die libanesische Zeitung „Al-Akhbar“, eine hochrangige libanesische Sicherheitsquelle habe ihr gegenüber enthüllt, US-Botschafterin Johnson mobilisiere „interne“ Kräfte gegen die Hisbollah. In Gesprächen mit libanesischen Politikern habe sie gesagt, Israel könne „durch Krieg nicht alles erreichen. Es ist an der Zeit, dass Sie Ihren Teil dazu beitragen und unter dem Motto ‚Es reicht‘ einen internen Aufstand starten.“ Die Hisbollah sei angeblich besiegt, die „gesamte freie Welt“ stehe „an Ihrer Seite“. Der libanesischen Sicherheitsquelle zufolge, so berichtet „Al-Akhbar“, werden Hetzkampagnen durchgeführt, um konfessionelle Spannungen in denjenigen Gebieten zu schüren, in denen sich durch die israelischen Bomben Vertriebene aufhalten. Die CIA soll zudem zusätzliche Agenten in den Libanon entsandt haben.
Unter israelischen Bombardierungen versucht Washington, Präsidentschaftswahlen zu erzwingen, bei denen der proamerikanische Armeechef Joseph Aoun installiert werden soll. Mehr als drei Milliarden US-Dollar an Militärhilfen haben die USA seit dem Krieg von 2006 in die libanesische Armee investiert und 32.000 Soldaten ausgebildet. Aber die Waffen sind veraltet. Sie sollen im Inneren einsetzbar sein, besonders gegen die Hisbollah, aber niemals zu einer nennenswerten Konfrontation mit Israel befähigen. Das Militär, das schon in der Vergangenheit nie in der Lage war, die libanesische Souveränität zu verteidigen, hat sich auch im aktuellen Krieg aus dem Süden, dem Epizentrum der Kämpfe, zurückgezogen. Vor Ort kämpfen die Hisbollah und mit ihr verbündete Kämpfer, die bislang verhindert haben, dass die israelische Armee die Kontrolle über libanesische Städte und Dörfer übernimmt. Obwohl ihr durch Bombenangriffe auf Waffendepots, die Ausschaltung fast ihrer gesamten militärischen Führungsriege und die Tötung ihres Generalsekretärs Hasan Nasrallah schwere Verluste zugefügt wurden, greift sie weiterhin Ziele in Israel an – immer tiefer im Landesinneren.
Israel kommt nicht weiter
Fünf Militärdivisionen mit über 50.000 Soldaten, hochmoderne Waffen sowie die israelischen Luft- und Seestreitkräfte sind im Libanon im Einsatz. Aber entscheidende Durchbrüche sind ausgeblieben. Das israelische Ziel, die Hisbollah von der Grenze zurückzudrängen, konnte nicht erreicht werden. Denn im Bodenkampf sehen die Kräfteverhältnisse anders aus als im Luftkrieg, den die israelische Armee weit besser beherrscht. Über 100 israelische Soldaten hat die Hisbollah nach eigenen Angaben bereits getötet und 900 verletzt. Zudem seien mindestens 42 Merkava-Panzer, vier Militärbulldozer, zwei Hummer-Fahrzeuge, ein Panzerfahrzeug und ein Mannschaftstransportwagen zerstört worden. Außerdem haben man drei Hormuz-450-Drohnen abgeschossen. „Besiegt“, wie US-Botschafterin Johnson behauptet, ist die Hisbollah noch lange nicht.
Anfang November berichtete die israelische Zeitung „Yediot Ahronoth“, die Armee sei mit einer schweren Rekrutierungskrise konfrontiert. Derzeit benötige man dringend 7.000 Rekruten, die Gesamtzahl der männlichen Soldaten sinke pro Jahr um ein Prozent. Etwa 33 Prozent der einberufenen Männer hätten sich in den vergangenen Jahren nicht bei den Rekrutierungsstellen gemeldet. In dem zitierten Bericht ist von „Seriende-sertation“ die Rede. 15 Prozent hätten den Dienst aufgegeben und seien nicht zum Reservedienst erschienen. Zudem sei die Zahl der Entlassungen aus medizinischen und psychischen Gründen von 4 auf 8 Prozent gestiegen.
Trotz der militärisch prekären Situation versucht Tel Aviv, ein Waffenstillstandsabkommen durchzusetzen, das für den Libanon eine Kapitulationsurkunde wäre. Unterstützt wird dies von den USA, aber auch aus Deutschland: Der US-Gesandte Amos Hochstein, der die Interessen der scheidenden US-Regierung vertritt, unterbreitet „Angebote“, die im Wesentlichen die israelischen Forderungen widerspiegeln. Und die Außenministerin der deutschen Ampel-Regierung, die ebenfalls bald Geschichte sein wird, Annalena Baerbock, sekundierte bei ihrem Besuch in Beirut. Ganz im Sinne der Netanjahu-Regierung will man die UN-Resolution 1701, die 2006 erlassen wurde, um den damaligen Krieg zu beenden, nicht konsequent umsetzen, sondern entsprechend israelischen Interessen und auf Kosten der libanesischen Souveränität erweitern.
Libanon wird erpresst
Israel formuliert als Bedingung für einen „Waffenstillstand“ einen Blankoscheck für die Fortsetzung von Bodenoperationen im Südlibanon sowie uneingeschränkten Zugang zum libanesischen Luftraum. Die israelische Verpflichtung aus Resolution 1701, beides zu unterlassen, hat Tel Aviv – ohne Gegenwehr der libanesischen Armee – seit 2006 mehr als 35.000 Mal verletzt. Auch deshalb hat die Hisbollah eine starke militärische Präsenz an der Grenze aufgebaut. Während Israel seine Verstöße ab sofort „legitimiert“ sehen will, wird von der libanesischen Seite die volle Umsetzung ihrer aus der Resolution resultierenden Verpflichtungen verlangt: die Hisbollah soll sich bis hinter den Litani-Fluss zurückziehen, laut den geplanten Erweiterungen sogar noch einige Kilometer mehr, und ihre Waffen abgeben. Die einzige militärische Kraft im Land, die in den letzten Jahrzehnten israelischen Angriffen die Stirn geboten hat, wäre ausgemerzt.
Allerdings hat der libanesische Parlamentssprecher Nabih Berri schon vor Wochen klargemacht, man werde eine Veränderung der Resolution 1701 nicht akzeptieren. Man wolle nicht hinnehmen, dass „Israels Interessen auf Kosten des Libanon und seiner Souveränität“ verwirklicht würden. Auch verlautet aus Regierungskreisen, zum gegenwärtigen Zeitpunkt sei jegliche Diskussion über die Waffen der Hisbollah „außerhalb des geographischen Geltungsbereichs“ der Resolution für sie kein Thema. Zudem lehne man eine Anwesenheit jeglicher ausländischer Streitkräfte entlang der syrischen Grenze ab, wie sie Washington und Tel Aviv ebenfalls fordern. Den bereits im Libanon stationierten internationalen Truppen dürften keine Vertreter weiterer Länder beitreten.
Amos Hochstein erpresst Beirut offen: die Weigerung, das „Angebot“ anzunehmen, bedeute, „dass der Krieg weitergehen und noch heftiger ausfallen“ werde. Gibt der Libanon seine Souveränität und Verteidigungskraft auf, wird er allerdings zum wehrlosen Opfer zukünftiger Angriffe, Invasionen und Besetzung werden.