Die Nachbarn sind Lehrer und sehr für Willkommenskultur, die Nachbarin bringt Flüchtlingen Deutsch bei. Als Familie Tagay* in das Haus eingezogen ist, haben sie sie freundlich begrüßt. Nur manchmal, wenn zum Beispiel der Rasen nebenan zu hoch steht, greift die Nachbarin zum Telefon und ruft Clara an, die deutsche Freundin von Familie Tagay: „Das geht so wohl nicht, wir sind hier in einer bürgerlichen Gegend.“ Jafar Tagay kann nicht einschätzen, wie viele Probleme ihm die Nachbarn machen können. Er kauft von seinen Grundleistungen eines Asylbewerbers einen Rasentrimmer und mäht. Seit er, seine Frau und die sieben Kinder das Haus bezogen haben, sagt er: „Jetzt sind wir in Deutschland angekommen.“
Aufgebrochen war die Familie, als sie IS-Kämpfer am Ufer des Sees gesehen hatten, das ihrem irakischen Heimatdorf gegenüberliegt. Jafar Tagay, der nur ein Bein hat, war auf seiner Prothese, mit seiner Frau und den sieben Kindern und ohne seine Schafherde über die Berge zwischen dem Irak und der Türkei gehumpelt. Ihre Chance auf Asyl ist gut: Jafar wusste, dass sie sich auf ihrem Weg über den Balkan nicht von der Polizei registrieren lassen dürfen, erst die deutschen Behörden haben ihre Fingerabdrücke in die Datenbank aufgenommen, und auch die Behörden erkennen an, dass irakische Jesiden aus IS-Gebieten Schutz brauchen. Im vergangenen Herbst gelangte er über die Balkanroute in die überfüllte Veranstaltungshalle im Ruhrgebiet, wo die Flüchtlinge untergebracht waren.
Dort, in der Kinderbetreuung, trifft Jafars zehnjähriger Sohn Deniz Clara. Die macht eine Ausbildung zur Erzieherin, hospitiert in der Erstaufnahme und sagt: „Ich bin die erste Bindung, die diese Kinder in Deutschland haben.“ Nach zwei Wochen sagt sie Deniz, dass sie am Montag nicht mehr kommen wird – mit „finish“ und „me“ und Händen und Füßen versteht er genug um zu weinen. Clara bittet ihre Kollegin ihr zu schreiben, wo Familie Tagay als nächstes unterkommen wird. Seitdem begleitet sie die Familie durch eine Willkommenskultur, die ohne Claras Unterstützung eine Sackgasse wäre.
Als Clara die Familie Tagay das nächste Mal besucht, warten die Kinder vor dem Eingang zum Zeltdorf. Jafar hat ihr über Facebook die Adresse im Essener Norden geschrieben, Clara wohnt nicht weit von hier. Sie feiern das Wiedersehen mit einem Glas Tee auf einem Sofa im Aufenthaltszelt, Clara hat den Kindern ihren alten Roller mitgebracht. Sie unterhalten sich, indem sie das Telefon herumreichen – Jafars Schwester lebt seit drei Jahren in einer Münchner Flüchtlingsunterkunft und kann übersetzen.
Jafar sagt: „Wir brauchen eine eigene Wohnung, wir können hier nicht leben.“ Hier haben sie etwas mehr Privatsphäre als in der Erstaufnahme, nur sonst nicht viel. Die Kinder können noch nicht zur Schule gehen, für ihre Betreuung kommen ab und zu ein paar Ehrenamtliche vorbei. Sie warten drei Monate lang auf den Brief mit dem Termin für das Interview, in dem das Amt ihren Asylantrag prüft. Clara sagt: „Man hat gesehen, dass es der Familie nicht gut ging.“ Die hygienischen Bedingungen sind schlecht, die Kinder stinken. Clara läuft Büros im Sozialamt ab, als sie den Zuständigen gefunden hat, sagt der: „Noch nicht als Flüchtling anerkannt? Eine Wohnung für eine Familie mit sieben Kindern? Das können Sie vergessen.“
Dann schreiben die Zeitungen, dass es teurer ist, die Flüchtlinge in Zeltdörfern unterzubringen als in Wohnungen, und Jafars Schwester übersetzt, was die anderen im Zeltdorf sagen: Wer eine Wohnung findet, dem zahlt das Sozialamt die Kosten. Clara geht auf Wohnungssuche.
Von Freunden hört sie, dass die meisten Vermieter abwinken, wenn sie hören, dass eine Flüchtlingsfamilie, die kein Deutsch spricht, einziehen will. Die Eigentümer des Hauses, das Familie Tagay besichtigt – ein Arzt und ein Professor –, gehören zu denen, die in den ankommenden Flüchtlingen eine Chance sehen. Ihre Chance liegt darin, für das heruntergekommene Haus ihrer Mutter eine hohe Miete zu nehmen und für die alten Möbel einen Abschlag. Aber auf den drei Etagen mit zwei Bädern können zehn Menschen leben, das Sozialamt übernimmt die Miete. Clara würde den Vermietern gerne ihre Meinung sagen. Jafar will aus dem Zeltdorf raus. Er stottert 1 000 Euro Abschlag von den Sozialleistungen ab. Dafür haben Jafar und seine Frau, die beide nicht lesen können, einen großen alten Schreibtisch überlassen bekommen, auf den sie immerhin den Fernseher stellen können.
Beim Sozialamt hört Clara, die Familie solle von dem Geld für die Erstausstattung neue Möbel und Geräte kaufen – wegen der Garantie, wenn was kaputt geht, gibt es kein Geld mehr. Das Geld hätte nicht für sieben neue Kinderbetten gereicht, Claras Freunde und Verwandte bringen Sofas und Decken zu Familie Tagay.
Willkommenskultur? „Für Familie Tagay sind meine Familie und ich die Willkommenskultur“, sagt Clara. Jafars Mutter hat ihr aus dem Irak eine Uhr geschickt und nennt Clara ihre neue Tochter, Claras Eltern laden Familie Tagay zum Grillen ein – „Ich habe da für immer Freunde gefunden“. Ohne ihre Hilfe hätte die Familie nicht aus dem Zeltdorf in ihr neues Haus ziehen können, ohne sie ist es für Jafar kaum möglich, beim Sozialamt auch nur das Zimmer zu finden, in dem er seinen Antrag abgeben muss. „Ich kann diese Familie nicht retten, aber ich kann eine positive Bindung sein – für diese eine Familie, mehr kann ich nicht.“ Der Älteste der Familie bekommt vom Schulamt keinen Platz auf einer Schule, Clara fragt ihre alten Lehrer an ihrer ehemaligen Schule, nun hat der Junge dort die 6. Klasse begonnen. Was die Behörden tun, reicht für Zelte und Verpflegung. Für vieles, was darüber hinausgeht, sind Flüchtlinge auf ehrenamtliche Unterstützer angewiesen. Die Prothese, mit der Jafar nach Deutschland gekommen ist, ist alt, der Stumpf wundgescheuert und der Antrag auf Kostenübernahme für eine neue Prothese steckengeblieben. „Es gibt noch viele kleine Baustellen“, sagt Clara.
* Namen geändert