Bundestag stuft Morde an kranken und behinderten Menschen als NS-Verbrechen ein. Lehren für heute werden nicht gezogen

Anerkennung mit Auslassungen

Es ist ein Satz, auf den die Opfer und ihre Nachkommen lange gewartet haben. 80 Jahre nach der Befreiung vom Faschismus ergeht an diesem Mittwoch (nach Redaktionsschluss dieser Ausgabe von UZ) folgender Beschluss: „Der Deutsche Bundestag stellt ausdrücklich fest, dass die Opfer der NS-,Euthanasie‘ und die Opfer von Zwangssterilisation als Verfolgte des NS-Regimes anzuerkennen sind.“

Schätzungsweise 300.000 Menschen wurden in als „Heil- und Pflegeanstalten“ getarnten Vernichtungslagern ermordet. Etwa 70.000 psychisch Kranke und Menschen mit Behinderung starben im Rahmen der sogenannten „Aktion T4“ (benannt nach der Zentrale in der Berliner Tiergartenstraße 4); die meisten von ihnen wurden mit Kohlenmonoxid vergast. Doch auch davor und danach trieben die Nazi-Ärzte unzählige Patienten in den Hungertod oder vergifteten sie. Zu den Opfern gehörten auch 5.000 Kinder, die in den sogenannten „Kinderfachabteilungen“ vor allem mit tödlichen Dosen von Luminal oder Morphium ermordet wurden.

Zur ideologischen Begründung konnten die Nazis auf bereits zuvor in Mode gekommene sozialdarwinistische Theorien und die eugenische Lehre vom „lebensunwerten Leben“ zurückgreifen. Um die Öffentlichkeit, die Mittäter in den Anstalten und Angehörige zu beruhigen, sprachen die faschistischen Machthaber und ihre Mediziner von „Euthanasie“ – dem „schönen Tod“, der für die Betroffenen eine Erlösung sei. Obwohl zahlreiche Dokumente und Zeugenaussagen die barbarische Vernichtung kranker Menschen belegten, ihre panische Angst während der Transporte und ihre Qualen vor und während der Hinrichtungen, hielt sich die Propaganda vom „schönen Tod“ auch in der Bundesrepublik.

Noch im Jahr 1967 sprach das Landgericht Frankfurt am Main drei an der Vergasung von Kranken beteiligte Ärzte mit der Begründung frei, dass „die durch Kohlenmonoxid herbeigeführte Tötung der Geisteskranken nicht ‚grausam‘ im Sinne des Paragraf 211 Absatz 2 Strafgesetzbuch (Anm.: Mord)“ sei. Im Westen konnten zahlreiche Täter ihre Karrieren ungebrochen fortsetzen.

Doch nicht nur die Personen, auch die Gesetze blieben erhalten. Nur in der Sowjetischen Besatzungszone wurde das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ im Jahr 1946 aufgehoben. In der BRD blieb es bestehen. Die 400.000 Menschen, die auf Grundlage dieses Gesetzes zwangssterilisiert worden waren, wurden in der Folge (bis heute) nicht als Verfolgte des NS-Regimes anerkannt. Im April 1961 bestätigte der Bundestagsausschuss für Wiedergutmachung die Einschätzung, dass es sich – wie der geladene Gutachter Hans Nachtsheim ausführte – nicht um ein „verbrecherisches Nazigesetz, sondern ein Erbgesundheitsgesetz“ handelte. Nachtsheim war während des Faschismus an der Durchführung von medizinischen Experimenten an Menschen beteiligt. Im Ausschuss erklärte er: „Jedes Kulturvolk kann auf die Dauer heute nicht auf Eugenik verzichten (…).“

Damit sprach er aus, was heute mit großem Aufwand bestritten, aber doch immer wieder reproduziert wird: Das Aussortieren von Menschen nach ihrer ökonomischen Verwertbarkeit ist eine Konstante im Kapitalismus. Die Nazi-Eugenik hatte diese Logik auf eine ungekannt grausame Stufe getrieben. Verschwunden ist sie jedoch bis heute keineswegs.

Mit derartigen Fragen befasst sich der aktuelle Beschluss im Bundestag nicht. Der Antrag von SPD, Grünen, FDP und CDU/CSU arbeitet sich nur an der völkischen Ideologie ab, mit der die Ermordung und Zwangssterilisation von Hunderttausenden begründet wurde. So ist vom „perfiden Plan zur Herstellung der ‚rassischen‘ Gesundheit der deutschen ‚Volksgemeinschaft‘ als Kern der NS-Biopolitik“ die Rede. Den Wesenskern der Verbrechen, die für die imperialistischen Träume des deutschen Großkapitals begangen wurden, blendet der Beschluss vollständig aus.

050502 Euthanasie - Anerkennung mit Auslassungen - 80. Jahrestag, Auschwitz, NS-Euthanasie, Zwangssterilisation - Politik
Propagandaplakat aus dem Jahr 1938 (Foto: Public Domain)

Nur am Rande wird erwähnt, dass auch sogenannte „Asoziale“ zwangssterilisiert wurden. Davon, dass das „Erbgesundheitsgesetz“ auch der Erfassung potentieller Zwangsarbeiter diente, dass zahlreiche Betroffene in Konzentrationslager verbracht wurden und beim Bau von Autobahnen, Kasernen und Flughäfen für die gewünschte Kriegsfähigkeit arbeiten mussten, ist nicht die Rede. Zu den „Asozialen und Arbeitsscheuen“ zählten laut eines Erlasses von Himmler im Jahr 1938 diejenigen, die „nachweisbar in zwei Fällen die ihnen angebotenen Arbeitsplätze ohne berechtigten Grund abgelehnt oder die Arbeit zwar aufgenommen, aber nach kurzer Zeit ohne stichhaltigen Grund wieder aufgegeben“ hatten. Aus dem Anerkennungsbeschluss Konsequenzen zu ziehen hieße, heutige Debatten über vermeintlich „arbeitsunwillige“ Bürgergeldempfänger und die nun vielerorts eingeführten Zwangsdienste in den Blick zu nehmen. Es hieße auch, über die Tatsache zu reden, dass in Deutschland 300.000 Menschen mit Behinderungen für einen Stundenlohn von 1,46 Euro in Werkstätten arbeiten.

Doch darum macht der Beschluss einen ebenso großen Bogen wie um die polnischen und sowjetischen Zwangsarbeiter, die bei der Aufzählung der Opfergruppen keine Erwähnung finden. Menschen wie Alexej S. Er wurde im Alter von 15 Jahren aus der So­wjet­union nach Frankfurt verschleppt, um in den Adler-Werken zu arbeiten, bevor er in eine „Nerven- und Heilanstalt“ eingeliefert wurde. Da er dort als „nicht arbeitsfähig“ galt, schickte man ihn in die Vernichtungsanstalt Hadamar, wo er getötet wurde. Etwa 700 nicht mehr auszubeutende „Ostarbeiter“ endeten, psychisch und körperlich ausgezehrt, in Hadamar.

Das „Euthanasie“-Programm diente nicht nur der umfassenden Selektion von arbeitsfähigen und nicht arbeitsfähigen Menschen. Es war auch integraler Bestandteil der Kriegspolitik. Bereits im Ersten Weltkrieg ließ man 70.000 Psychiatriepatienten in den deutschen Anstalten verhungern. Die Nazis knüpften daran an, wie Viktor Brack, in der „Kanzlei des Führers“ mit den Krankenmorden betraut, nach dem Krieg freimütig erzählte: „Diese Leute wurden als nutzlose Esser angesehen und Hitler war der Ansicht, dass durch die Vernichtung (…) die Möglichkeit gegeben wäre, weitere Ärzte, Pfleger (…) Krankenbetten und andere Einrichtungen für den Gebrauch der Wehrmacht freizumachen.“

Hitlers „Gnadentod“-Erlass, der den handelnden Ärzten eine Vollmacht zur Tötung erteilte, wurde nicht zufällig auf den 1. September 1939 datiert. Schon zuvor waren die Essensrationen in den Anstalten reduziert worden. Mit Kriegsbeginn wurde die systematische Ermordung der Patienten zum Tagesgeschäft. Das erste große Massaker fand an 1.800 Patienten der Klinik im polnischen Wejherowo statt. Im Anschluss wurde in dem ehemaligen Krankenhaus ein Lazarett eingerichtet. Zahlreiche weitere Anstalten wurden leergemordet, um anschließend für die Wehrmacht zur Verfügung zu stehen. So auch in Eberswalde, wo die Rote Armee bei der Befreiung ein „Reservelazarett“ vorfand. Von ehemals 1.600 Betten waren nur noch 200 belegt.

Kein Wort verliert der Bundestagsbeschluss zum Krieg. Kein Wort auch dazu, dass die sogenannte „Kriegsmedizin“ heute wieder vorbereitet wird. Wurde bereits in der Corona-Zeit darüber diskutiert, ob chronisch Kranke und Menschen mit Behinderung einen Anspruch auf ein Krankenbett oder ein Beatmungsgerät haben, findet heute ganz offiziell die Vorbereitung auf kommende Triage-Situationen statt. Zugleich werden Behandlungsplätze durch die Schließung von Krankenhäusern immer knapper.

Wie diese Ressourcen verteilt werden sollen? Darüber schweigt der Bundestagsbeschluss, der sich beharrlich weigert, aus der Anerkennung der Verfolgten Lehren für die heutige Zeit zu ziehen. Stattdessen sollen „im Rahmen der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel“ Forschung und Gedenken gefördert werden. Der Bundestag versichert sich selbst, sich von der völkischen Nazi-Ideologie befreit zu haben. Dass das dem Gerede von „nutzlosen Essern“, „faulen Arbeitslosen“ und „Kriegstüchtigkeit“ keinen Abbruch tut, kann jeden Tag in Talkshows und Zeitungen verfolgt werden.

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"Anerkennung mit Auslassungen", UZ vom 31. Januar 2025



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