Gewohnt gründlich, differenziert und gut begründet parteilich beschreibt und kritisiert Christoph Butterwegge anlässlich seines 10-jährigen „Jubiläums“ den unter dem Schlagwort Hartz IV berüchtigten Sozialabbau in der Bundesrepublik und bietet eine Grundlage ihn politisch und historisch einzuordnen:
Handlungsleitendes Motiv für zarte sozialstaatliche Errungenschaften während des 1. Weltkriegs – der Autor bezeichnet sie gar im Eingangskapitel als „Weichen für den Durchbruch den Sozialstaatsgedankens“(12)– war die Furcht vor dem Bolschewismus. Folgerichtig drangen die Unternehmer und ihre Parteien nach Abflauen der revolutionären Aufbruchstimmung in den 1920er Jahren auf deren Rücknahme, kündigten damit den Gründungskonsens der Weimarer Republik, indem sie u. a. die finanzielle Konsolidierung der Arbeitslosenversicherung 1930 verhinderten, was in der Folge zu demokratisch nicht legitimierten Präsidialkabinetten und Regierungen mittels Notverordnungen führte. Sozialpolitisches Resultat war u. a. der Übergang vom (Arbeitslosen-)Versicherungsprinzip zur reinen Fürsorge auf dem Hintergrund einer schon damals asozialen Wirtschaftspolitik die auf die Verbesserung der Angebotsseite unter Vernachlässigung der Nachfrage orientierte. Folgerichtig führte vom Freiwilligen Arbeitsdienst(FAD) „eine gerade Linie zur Einrichtung des Reichsarbeitsdienstes(RAD)…sowie zur Einweisung ‚arbeitsscheuer‘ und ‚asozialer‘ Elemente in die Konzentrationslager des NS-Regimes“(32). Die sozialdemokratische Tolerierungspolitik, ihre und der Gewerkschaften Mittragen des Sozialabbaus trugen zum Scheitern der Republik und letztlich zur Festigung der Macht des NS-Regimes bei.
Hartz IV und die Folgen. Auf dem Weg in eine andere Republik?
Weinheim & Basel 2015, Beltz-Juventa, 290 Seiten
Nach dieser historischen Einordnung erläutert Butterwegge Vorgeschichte, Entstehungsbedingungen und theoretische Grundlagen der rot-grünen „Reform“-Agenda auf Grundlage seiner Überlegungen in den diesbezüglich sehr empfehlenswerten Büchern „Krise und Zukunft des Sozialstaates“ (s. Besprechung in MB 5.2013) und „Kritik des Neoliberalismus“ (zusammen mit Bettina Lösch und Ralf Ptak, s. Besprechung in MB 6.2008). Zusammengefasst: von Aufstieg und Krise des Keynesianismus in der Bundesrepublik über Lambsdorff-Papier und mehr oder weniger gescheiterter Kohl’scher geistig-moralischer Wende zur Verwirklichung derselben vermittels rot-grünem Sozialabbau gegründet auf das Leitbild des Schröder/Blair-Papiers. Historische Ähnlichkeiten wenn auch nicht Parallelen zur Weimarer Republik drängen sich auf. Ausführlich beschrieben und kritisiert werden das Konzept „aktivierender“ Staats-/Arbeitsmarktpolitik im Zusammenhang der sog. Reformagenda, Rolle und Funktion von Expertokratie zur ihrer ideologischen Begleitung am Beispiel der Bertelsmann-Stiftung, die Person Hartz und Arbeit der nach ihm benannten Kommission sowie die Vorläufergesetze von Hartz IV und ihre Auswirkungen. Eingehend schildert der Autor die politischen Auseinandersetzungen zur Durchsetzung der Agenda 2010 und räumt gründlich mit den Erklärungsmomenten für deren angebliche Erfolge auf, verweist hingegen darauf, dass die südlichen Peripherieländer der EU ökonomisch geschwächt, die dortigen „Staatsschuldenkrisen“ mitverursacht und die Einkommensungleichverteilung verschärft wurden. Parteipolitisch war die Agenda für die SPD in mehrfacher Hinsicht, was Wählende und Mitglieder anbelangt, ein Fiasko.
Ein langes Kapitel beschäftigt sich detailliert mit den Inhalten von Hartz IV, charakterisiert und kritisiert anschaulich elementare Bestandteile wie Eingliederungsvereinbarungen, 1-Euro-Jobs, Sanktionen und erklärt, z. T. ermüdend ausführlich, die politischen Auseinandersetzungen, den parlamentarischen wie außerparlamentarischen Widerstand sowie mehr oder weniger erfolgreiche juristische Gegenwehr Betroffener und das organisatorische Chaos in der Arbeitsverwaltung. Hinter letzterem vermutet der Autor nicht bloß Zermürbungstaktik gegenüber Betroffenen sondern einen Beitrag zu einer politischen Strategie der Beschneidung individueller Rechte. Kehrseite ist „eine ‚Prozesslawine‘, wie sie die auf Konsens und Konfliktvermeidung im gesellschaftlichen Leben orientierte Bundesrepublik vorher nie erlebt hatte.“(160) Die Durchsetzung von Hartz IV wurde von einer marktradikalen Medienöffentlichkeit flankiert die sich teilweise eines NS-Jargons bediente (z. B. Biologisierung Hilfebedürftiger als ‚Parasiten‘) und dadurch erleichtert, dass Grüne, SPD und – in deren Schlepptau DGB – das Wirksamwerden entscheidenden Widerstandspotentials verhinderten und die folgende drohende Armut Entsolidarisierung, Entkollektivierung und Entpolitisierung bewirkte. Gleichwohl formierte sich die eindrucksvollste Protestbewegung im vereinigten Deutschland nach den Montagsdemonstrationen der ‚Wende‘ und den Manifestationen gegen die sog. Nachrüstung 15 bzw. 25 Jahre zuvor bei gleichzeitig leider verbesserten Wirkungsmöglichkeiten alter und neuer Faschisten in der Protestbewegung gegen Sozialabbau. Ökonomisch stellt Hartz IV ein Anreizsystem zur Lohnsenkung mit dem Ergebnis eines wachsenden Niedriglohnsektors dar; die Verringerung des Beitragssatzes zur Arbeitslosenversicherung von 6,5 % auf 2,8 % stellt in diesem Zusammenhang einen Beitrag zur Senkung der „Lohnnebenkosten“ dar, wie von den Unternehmen und ihren Verbänden gefordert.
Anschließend erörtert Butterwegge – wiederum z. T. ausufernd detailverliebt – die politischen Auseinandersetzungen um die Hartz-Gesetze in der Zeit der drei folgenden Regierungskonstellationen, juristische Konflikte und deren „Lösung“ sowie Auswirkungen in verschiedenen Politikfeldern. Dazu gehören beispielsweise zunehmende Gettoisierung, immer mehr Beschäftigte die zu ihrem Erwerbseinkommen auf Aufstockungsleistungen angewiesen sind, der „Export“ dieses Modells ins benachbarte Ausland wodurch Deutschland zum Vorreiter rigiden Sozialabbaus in Europa wurde sowie die Zementierung der Armut. Hierzu stützt der Autor sich auf zentrale Aussagen seines hervorragenden Buchs „Armut in einem reichen Land“ (s. Besprechung in MB 6.2009) speziell, was die Diskussion dieses Problems in veröffentlichter Meinung und Fachwissenschaften anbelangt. Weitere individuelle und gesellschaftliche Auswirkungen sind Gegenstand des vorletzten Kapitels; solche sind u. a. Zunahme von atypischen, prekären und geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen z. T. auf Kosten von Voll- und Teilzeitstellen, Angewiesenheit auf Grundsicherung im Alter und Altersarmut, steuerrechtlich flankierte Verschärfung sozialer Ungleichheit, Vertiefung der Ost-West-Spaltung, Arbeitszwang, gesundheitliche Probleme und Verbreitung der Tafeln in Deutschland, deren Ambivalenz der Autor fundiert begründet. In diesem Zusammenhang widerlegt er auch diverse ideologische Begründungsmuster wie sie massenmedial als auch in Teilen der Sozialwissenschaften verbreitet werden, konstatiert, dass sich die Protagonisten mit dem Hartz-Regime von der Lebensstandardsicherung verabschiedet haben und auch ihrem Anspruch, Langzeitarbeitslosigkeit zu verringern mitnichten gerecht geworden sind. Betont und differenziert dargestellt wird die verbreitete Verhöhnung Betroffener in einem Teil der Medien und Wissenschaft auf Grundlage sozialdarwinistischer Deutungsmuster bis hin zur Propagierung eugenischer Maßnahmen was im Gesamtzusammenhang als Entkultivierung des Bürgertums charakterisiert werden kann. Auf diese Tendenzen bezugnehmend in Verbindung mit dem weitgehenden Entzug von Datenschutz für Leistungsempfänger und deren hoher Wahlabstinenz sieht der Autor ein Moment der Entpolitisierung Betroffener und eine Begründung dafür, dass Deutschland, wie der Untertitel nahelegt, auf dem Weg in eine andere Republik ist. Hauptverantwortlich hierfür macht er die Sozialdemokratie, die mit ihrer Politik des „dritten Weges“ und ihre Annäherung an neoliberale Hegemonie dieser „Entpolitisierung“ Vorschub geleistet hat durch die Propagierung der Anpassung der Gesellschaft an vermeintliche Sachzwänge.
Abgeschlossen wird das sehr empfehlenswerte Buch mit einer fundierten Kritik der gezielten Stimmungsmache und selektiven Berichterstattung in den bundesdeutschen Medien gegen „Drückeberger“, „Faulenzer“ und „Sozialschmarotzer“; die diversen Kampagnen z. B. gegen „rumänische Armutsmigranten“ – die nebenbei rassistisch an Antiziganismus anknüpft – werden mit entsprechenden Fakten widerlegt und ihre jeweilige meinungsbildende und politische Funktion z. B. als Spaltungsstrategie im Einzelnen nachgewiesen. Sprachkritisch setzt sich Butterwegge auch mit den Motiven solcher Begriffsbildungen wie „neue Unterschicht“ auseinander und charakterisiert den Diskurs über (Kinder-)Armut als Modethema da lediglich moralisierend geführt, ohne dass deutlich wird, dass sie konstitutiver Bestandteil des Kapitalismus ist. Hier – wie auch im angloamerikanischen Bereich – wandelt sich „die jahrhundertelange Furcht aller Besitzenden vor den ‚gefährlichen Klassen‘…in deren bloße Verachtung und…Verleumdung.“(278/9)
Butterwegges Urteil in der Einleitung, dass Hartz IV inhuman ist, entrechtet, erniedrigt, entmündigt, stigmatisiert, sozial ausgrenzt und isoliert ist vollinhaltlich zuzustimmen; Folgen wie deregulierter Arbeitsmarkt, liberalisierte Leiharbeit, ausufernder Niedriglohnsektor und Entsolidarisierung konstatiert er nicht nur sondern untermauert jeden seiner Kritikpunkte gründlich. Zwischenzeitlich sind auch weitere internationale Auswirkungen – Stichwort: Verschuldungskrise/Griechenland – deutlich geworden. Ein Muss für jede/n der sich über Hartz IV und sein Bedingungsgefüge kritisch informieren will.