Die Türkei zwischen Afrika, Asien, Europa und eigenen Großmachtträumen

Anatolische Tiger

„Eine Welt ohne Hegemon“ heißt das neue Buch von Jörg Kronauer, das dieser Tage im konkret-Verlag erschien. Der UZ-Autor fasst darin die Entwicklungen und Verschiebungen in den internationalen Kräfteverhältnissen zusammen, die er auch immer wieder in seinen Kolumnen in dieser Zeitung kommentiert. Die Welt ist in Bewegung geraten: Neue Kräfte, zusammengeschlossen etwa in der BRICS-Plus-Kooperation, stellen die Weltordnung infrage, welche die USA nach dem Untergang des sozialistischen Lagers etablieren konnten und die bisher die Hegemonie des Imperialismus sicherte – mit noch ungewissem Ausgang.

Wir drucken hier mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag Auszüge aus dem Kapitel zur Türkei ab.

Die Türkei wird in der westlichen Öffentlichkeit seit Jahren als Staat wahrgenommen, der sich querstellt, immer wieder rücksichtslos und brutal agiert und der sich bei alledem als höchst unzuverlässiger Verbündeter erweist. Der Eindruck ist nicht falsch. In die Irre führt aber die Auffassung, all dies resultiere allein aus der Willkür einer Person: Recep Tayyip Erdoğan, der die Politik der Türkei bereits seit 2003 maßgeblich prägt, erst als Minister-, dann als Staatspräsident. Die Türkei erlebt seit der Jahrtausendwende einen zeitweise steilen ökonomischen Aufstieg, der es ihr ermöglicht hat, sich machtpolitisch neu zu profilieren. Ihre Interessen gehen dabei nur zum Teil mit denjenigen des Westens konform; zum Teil laufen sie ihnen diametral entgegen. Konflikte sind deshalb programmiert. Dass sie unter Erdoğan immer wieder besonders aggressiv ausgetragen werden, trifft allerdings zu.

Die Türkei hat nach einer heftigen Krise, die ihr Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Jahr 2001 auf knapp 202 Milliarden US-Dollar abstürzen ließ, einen Wirtschaftsboom erlebt. Sie musste damals im Gegenzug gegen einen Kredit des Internationalen Währungsfonds (IWF) die üblichen Deregulierungsmaßnahmen einleiten und packte sie in ein Programm mit dem Titel „Transition to Strong Economy“ (TSE), das unter der Federführung von Kemal Dervis¸ verabschiedet und gestartet wurde. Dervis¸, der eine mehr als 20-jährige Karriere bei der Weltbank hinter sich und es dort im Jahr 2000 bis zum Vizepräsidenten gebracht hatte, war im März 2001 von Ministerpräsident Bülent Ecevit eigens zur Realisierung des Programms als Wirtschaftsminister nach Ankara geholt worden. An das Programm hielt sich auch Erdoğans Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP, Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung), als sie Ende 2002 ans Ruder kam. Die Zahlen konnten sich ja auch sehen lassen. Befeuert durch einen Bauboom und hohe Direktinvestitionen aus dem Ausland – 123,8 Milliarden US-Dollar allein von 2002 bis 2012 –, wuchs das BIP der Türkei bis 2013 auf 958 Milliarden US-Dollar. Damit war das Land in zwölf Jahren von der elft- zur siebtgrößten Volkswirtschaft in Europa aufgestiegen. Zugleich war freilich, eine Folge der Deregulierung, beispielsweise der Anteil der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter von 29,1 Prozent (2001) auf 6,3 Prozent (2015) geschrumpft.

EU-Orientierung

Das rasante Wachstum der Türkei in den 2000er Jahren vollzog sich in enger Kooperation mit der EU. Bereits die Zollunion, die Ende 1995 in Kraft getreten war, hatte dazu geführt, dass sich die türkischen Exporte in die Union binnen zehn Jahren auf 48 Milliarden US-Dollar vervierfacht, die Importe aus der EU auf 58 Milliarden US-Dollar verdreifacht hatten. Am 17. Dezember 2004 beschlossen die Staats- und Regierungschefs der EU zudem, förmliche Beitrittsgespräche mit der Türkei aufzunehmen. Das hieß: Kapitel für Kapitel würde man nun darangehen, das türkische Normensystem an dasjenige Westeuropas anzugleichen – zur Freude der Industrie aus der EU, die nicht nur einen noch lukrativeren Absatzmarkt, sondern auch einen höchst kostengünstigen Produktionsstandort entstehen sah. Und in der Tat – auch die Türkei-Investitionen aus der EU nahmen rasch zu. 2013 lagen deutsche Unternehmen mit einem Gesamtvolumen von mehr als 7,3 Milliarden Euro vorn. Noch heute ist Mercedes-Benz Türk mit einem Volumen von über 1,3 Milliarden Euro einer der größten Auslandsinvestoren in der Türkei. Der deutsche Konzern stellt in Hoşdere, einem Stadtteil von Istanbul, Busse, im zentralanatolischen Aksaray Lkw her – zum Teil für den türkischen Markt, zum Teil auch für den Export, letzteres vor allem in die EU.

Zum türkischen Wachstum der 2000er Jahre trug nicht zuletzt ein sehr spezieller Faktor bei: die „anatolischen Tiger“, erfolgreiche Unternehmen aus dem konservativ-islamisch geprägten Zentralanatolien. Schon in den 1980er Jahren hatte die türkische Regierung unter Turgut Özal – Ministerpräsident von 1983 bis 1989, Staatspräsident von 1989 bis 1993 – begonnen, die Wirtschaft im ökonomisch rückständigen Zentralanatolien gezielt zu fördern. Der Plan ging auf: In Städten wie Kayseri wuchs, wie im Jahr 2008 Rainer Hermann, damals Türkei-Korrespondent der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, resümierte, „eine neue Schicht von Unternehmern und Selbstständigen heran“, die geschäftlich erfolgreich war und eine erkleckliche Anzahl aufstrebender Konzerne etwa in der Lebensmittelproduktion, der Textil- und der Möbelindustrie hervorbrachte. In Kayseri lebten im Jahr 2008 laut Hermann 50 der 500 reichsten Türken; allein in Hacılar, einem Stadtbezirk von Kayseri, hatten neun der 500 größten Industriebetriebe des Landes ihren Sitz. Die „anatolischen Tiger“ stärkten nicht nur die türkische Wirtschaft; mit ihren Konzernherren, die islamisch-konservativ orientiert waren – im Gegensatz zur traditionellen kemalistischen Wirtschaftselite der westtürkischen Metropolen –, wurden sie bald auch eine tragende Säule der AKP.

Blick zu den Nachbarn

Die aufstrebende zentralanatolische Wirtschaft, weniger die ganz großen, sondern oft eher mittlere und kleinere Unternehmen, wurde zudem zu einer treibenden Kraft der türkischen Wirtschaftsexpansion jenseits der EU. Zum Beispiel Syrien: Der türkische Handel mit dem Nachbarland lag im Jahr 2000 bei mageren 724 Millionen US-Dollar. Dann öffnete der 2000 an die Macht gelangte syrische Präsident Baschar al-Assad das Land sukzessive für billige türkische Waren, vereinbarte Ende 2004 mit Erdoğan ein Freihandelsabkommen, und schon 2008 hatte sich der bilaterale Handel auf ein Volumen von 1,8 Milliarden US-Dollar mehr als verdoppelt; davon stammten 1,1 Milliarden US-Dollar aus den Syrien-Exporten der Türkei. Ähnlich lief es im Handel mit dem Irak. Allein in den kurdisch dominierten Norden des Landes exportierten türkische Unternehmen im Jahr 2007 Waren im Wert von 1,7 Milliarden US-Dollar. 2011 führten sie dorthin bereits Waren in einem Wert von mehr als fünf, 2013 von mehr als acht Milliarden US-Dollar aus. Die Ausfuhr der Türkei in den gesamten Irak lag da bereits bei annähernd 13 Milliarden US-Dollar. Dass das türkische Irak-Geschäft ab Mitte 2014 wieder rückläufig war, weil Bagdad tief im Krieg gegen den IS steckte, steht auf einem anderen Blatt.

Mit ihren steigenden Exporten in angrenzende Länder des Nahen und Mittleren Ostens trug die Wirtschaft im islamisch-konservativen Zentralanatolien dazu bei, die Orientierung der türkischen Industrie auf die EU zu schwächen und dafür andere Weltregionen – oft islamisch geprägte Länder – als zusätzliche Absatzmärkte in den Blick zu nehmen. Der Anteil der türkischen Exporte in die Eurozone fiel entsprechend von 56 Prozent im Jahr 2007 auf 40 Prozent im Jahr 2012; bis 2021 war der Anteil der gesamten EU an der türkischen Ausfuhr auf nur noch 34,6 Prozent gesunken.

Aufstieg, Repression, Aufrüstung

War in den Jahren 2022/23 von der türkischen Ökonomie die Rede, standen oft krisenhafte Entwicklungen im Mittelpunkt. Es stimmte ja: Seit 2013 holperte die türkische Wirtschaft kräftig. Bereits 2014 ging das BIP auf 939 Milliarden US-Dollar zurück und fiel bis 2020 sogar auf 720 Milliarden. 2022 hatte es laut Weltbank-Angaben zwar wieder 906 Milliarden erreicht, lag damit aber immer noch klar unter dem Volumen des Jahres 2013. Zu der wirtschaftlichen Schwächephase hatten die zahlreichen inneren Erschütterungen beigetragen – von der Niederschlagung der Gezi-Proteste über den Putschversuch im Jahr 2016 bis zum mörderischen Vorgehen gegen die kurdischsprachige Minderheit und zu den Repressalien gegen Anhänger von Fethullah Gülen –, darüber hinaus Erdoğans, höflich formuliert, unorthodoxe Finanzpolitik. Wer den Blick aber auf die dramatische Inflation und andere Problemfaktoren fokussierte, übersah, dass die Türkei trotz allem ihren wirtschaftlichen Einfluss im Ausland wieder ausweiten konnte.

Hinzu kam, dass die türkische Industrie längst auch technologisch Fortschritte machte. Das wohl bekannteste Beispiel waren militärische Drohnen. Ursprünglich hatte Ankara sie einfach kaufen wollen – in Israel oder in den USA. Beim Kauf der Heron-Drohnen aber gab es Verzögerungen und Reibereien; die USA wiederum verweigerten die erforderlichen Exportgenehmigungen prinzipiell. Die türkische Industrie ging deshalb daran, eigene Drohnen zu entwickeln. Der Aufwand zahlte sich aus. 2010 stellte Turkish Aerospace Industries (TAI) die erste TAI Anka vor, eine Aufklärungsdrohne. 2015 präsentierte das Unternehmen Baykar ein Video, auf dem die Kampfdrohne Bayraktar TB2 eine Rakete abfeuerte. Sie entwickelte sich in den folgenden Jahren zu einem beispiellosen Export­erfolg.

Weniger Aufmerksamkeit erhält bisher noch die rasante Entwicklung der übrigen türkischen Rüstungsindustrie. Bereits seit der Verhängung eines US-Waffenembargos wegen der türkischen Invasion auf Zypern im Jahr 1974 hatte Ankara den Aufbau eigener Rüstungsfirmen gefördert; echte Fortschritte gab es dann vor allem ab den 2000er Jahren. Ankara wandte immer höhere Summen auf: Erreichten seine laufenden Rüstungsprojekte im Jahr 2002 einen Wert von 5,5 Milliarden US-Dollar, so stieg ihr Wert bis 2022 auf 60 Milliarden US-Dollar. Zwei türkische Rüstungskonzerne, ASELSAN und TAI, gehörten 2022 bereits zu den 100 größten Waffenschmieden weltweit und die Branche wuchs in raschem Tempo weiter. Türkische Konzerne bauten inzwischen einen eigenen Kampfpanzer, den Altay; dass westeuropäische Unternehmen, die sich zunächst daran beteiligt hatten, aus dem Vorhaben ausstiegen, zwang die türkische Industrie weitestgehend zu Eigenproduktionen – und sie hatte Erfolg. Türkische Unternehmen produzierten nun Korvetten, arbeiteten an Fregatten und hatten, wenngleich nur in Lizenz – die Pläne stammten von der spanischen Navantia –, sogar einen Flugzeug- beziehungsweise Drohnenträger fertiggestellt. Baykar fertigte einen unbemannten Kampfjet mit der Modellbezeichnung Kızılelma. Im Fünfjahreszeitraum von 2018 bis 2022 lag die Türkei auf der SIPRI-Rangliste aller Rüstungsexporteure weltweit mit einem Anteil von 1,1 Prozent bereits auf Platz 12.

Zukunftstechnologien

Türkische Unternehmen waren 2023 auch jenseits der Rüstungsbranche längst in modernen Tech-Sektoren erfolgreich – von Onlinehändlern wie dem Amazon-Äquivalent Hepsiburada, dessen Börsengang an der New-Yorker Technologiebörse Nasdaq im Sommer 2021 seine Gründerin Hanzade Doğan Boyner mit einem Schlag zur Dollarmilliardärin machte, über Spielefirmen wie Peak Games, die 2020 für 1,8 Milliarden US-Dollar vom US-Anbieter Zynga erworben wurde, bis zu Lieferdiensten wie Getir, der lange expandierte und im Dezember 2022 in Deutschland einiges Aufsehen erregte, als er für eine Milliardensumme seinen Konkurrenten Gorillas schluckte. Im Frühjahr 2023 wurden die ersten Exemplare des ersten türkischen Elektroautos, des TOGG (Türkiye’nin Otomobili Giris¸im Grubu, Türkische Automobil-Joint-Venture-Gruppe), ausgeliefert; das Herstellerkonsortium, 2018 gegründet, baute darüber hinaus gemeinsam mit dem chinesischen Konzern Farasis Energy eine Batteriefabrik. Bereits einige Schritte weiter war Karsan, ein Hersteller von Elektrobussen, der seit einiger Zeit schon exportierte und in Europa bis zum Jahr 2023 einen Marktanteil von 6,5 Prozent erobern konnte. Gleichfalls aus der Fertigung von Karsan stammte der autonom fahrende E-Bus, der seit Mitte 2022 im norwegischen Stavanger den öffentlichen Nahverkehr bedient – laut Berichten der erste in Betrieb genommene Bus seiner Art in Europa.

Strategische Tiefe

Auf dem wirtschaftlichen Wachstum des Landes fußt die expandierende Außenpolitik der türkischen Regierung seit den 2000er Jahren, freilich zuweilen genauso stotternd und sprunghaft wie die türkische Ökonomie. Dass Ankara bei seinen Aktivitäten immer wieder mit dem Westen kollidiert, ist nicht neu. Ein frühes Beispiel war etwa die Invasion auf Zypern im Sommer 1974, die zu heftigen Spannungen führte. Allerdings mehrten sich die Konflikte nach dem Wahlsieg der AKP im November 2002 und dem Amtsantritt von Erdoğan als Ministerpräsident am 12. März 2003 rasant. Es begann damit, dass Ankara sich vor dem US-Überfall auf den Irak weigerte, US-Truppen von türkischem Territorium aus in den Nordirak einmarschieren zu lassen. Washington nahm das übel. Am 4. Juli 2003 stürmten US-Militärs einen geheimen Stützpunkt türkischer Spezialkräfte im nordirakischen Sulaimaniyya und nahmen dabei elf türkische Soldaten fest, die sie mit einem Sack über dem Kopf abführten. Erst am 7. Juli ließen sie sie wieder frei. Damit erreichten die Spannungen zwischen Washington und Ankara schon zu Beginn der Ära Erdoğan ein neues Niveau.

Dabei ließ sich Erdoğans Außenpolitik ansonsten recht friedlich an. Gestaltet wurde sie während der 2000er Jahre von Ahmet Davutoğlu, einem Politikwissenschaftler von der Beykent-Universität in Istanbul, der von 2002 an zunächst als Erdoğans außenpolitischer Chefberater die türkische Außenpolitik prägte, bevor er im Mai 2009 selbst zum Außenminister ernannt wurde. Sein Konzept hatte er bereits im Jahr 2001 in einem Buch mit dem Titel „Stratejik derinlik“ („Strategische Tiefe“) dargelegt. Die Kernidee: Die Türkei, erläuterte Davutoğlu in einem Interview, liege „geopolitisch gesehen in einer einzigartigen Position, in der Mitte Afro-Eurasiens“. An sie grenzten im Nordwesten Europa, im Nordosten der Kaukasus, im Südosten Iran und Irak und im Süden der Nahe Osten. Über das Mittelmeer sei man zudem schnell auf dem afrikanischen Kontinent. Gelinge es der Türkei, mit all ihren Nachbarstaaten eng zu kooperieren, dann könne sie sich ein „großes Potential für Entwicklung und Wohlstand“ erschließen. Beispiele dafür waren damals die Annäherung an die EU oder auch der Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen zu Syrien und zum Irak. Davutoğlu arbeitete, um für sein Konzept zu werben, öffentlich gerne unter dem – im Rückblick doch erstaunlichen – Motto „Null Probleme mit den Nachbarn“.

Friedlicher Nachbar

Dabei brach Davutoğlu nicht nur mit dem Konzept der alten kemalistischen Eliten, deren Außenpolitik – bei allen Konflikten mit der EU und den USA – stets nach Westen ausgerichtet war. Er nahm, indem er sich zu allen Nachbarstaaten hinorientierte, weite Territorien ins Visier, die einst zum Osmanischen Reich gehört hatten – von Albanien und Bosnien-Herzegowina über Teile des Nahen und Mittleren Ostens bis nach Nordafrika. Und während Erdoğan sich daranmachte, in der türkischen Innenpolitik Bezüge zum Osmanischen Reich und im Kontext damit auch die Rolle des Islams zu stärken, knüpfte Davutoğlu in seiner Außenpolitik daran an. Ein Beispiel: Im Oktober 2009 eröffnete er in Sarajevo eine Konferenz mit dem Thema „Osmanisches Erbe und die heutige muslimische Gemeinschaft auf dem Balkan“, während gleichzeitig die türkische Entwicklungsagentur Tika mit der Renovierung osmanischer Bauten in Albanien und Bosnien-Herzegowina, im Libanon und in Ägypten beschäftigt war. Der deutliche Bezug auf das Osmanische Reich, mit dem Mustafa Kemal Atatürk einst gebrochen hatte, verstärkte im Innern den Streit mit den alten Eliten. Bald war denn auch, meist in abwertendem Ton, von einer „neoosmanischen“ Außenpolitik der Regierung Erdog˘an die Rede, die die neue türkische Wirtschaftsexpansion nicht nur politisch begleite, sondern auch kulturell auf reaktionäre Weise überhöhe.

Ambitionen

Das neoosmanische Element ist der türkischen Außenpolitik erhalten geblieben, Davutoğlus „Null Probleme“-Ansatz hingegen nicht. Der Umbruch erfolgte 2011, und er hatte etwas mit den Unruhen in der arabischen Welt und mit der Nähe der AKP zur Muslimbruderschaft zu tun. Die arabischen Unruhen brachten der Muslimbruderschaft in mehreren Ländern neue Chancen: In Ägypten konnte sie vom 30. Juni 2012 bis zum Militärputsch vom 3. Juli 2013 den Präsidenten stellen; in Libyen wurde sie nach Muammar al-Gaddafis gewaltsamem Sturz zu einer einflussreichen Kraft; in Tunesien war die ihr nahestehende Partei Ennahda bald an der Regierung beteiligt und in Syrien unterstützte sie den Versuch, Baschar al-Assad zu entmachten. Die AKP-Regierung in Ankara begriff das als Chance – und wechselte von ihrer Politik der Kooperation mit den Regierungen der genannten Länder zu einer Politik enger Zusammenarbeit mit den jeweiligen Strukturen der Muslimbruderschaft. In Ägypten brachte ihr das für die Zeit von Mitte 2012 bis Mitte 2013 beste Beziehungen zu Präsident und Regierung, brockte ihr danach aber desaströse Beziehungen zur – mit den Muslimbrüdern verfeindeten – Militärregierung ein. In Tunesien boten ihr die Sonderkontakte zur Ennahda-Partei gewisse Chancen, während ihr die Beziehungen zu Libyens Muslimbrüdern wichtige Türen in Tripolis öffneten.

Strategische Partner

Die Tatsache, dass die Türkei auf der Basis ihrer gewachsenen ökonomischen Stärke sich ausgreifende machtpolitische Initiativen mit ganz unterschiedlichen Stoßrichtungen leisten konnte, die zuweilen auch mit den Interessen der EU kollidierten, hatte nicht zuletzt mit der engen türkisch-russischen Kooperation zu tun. Sie ist nicht selbstverständlich. Russland und die Türkei beziehungsweise das Osmanische Reich standen sich historisch oft als Feinde gegenüber; ihre Interessensphären überschnitten sich, etwa in Südosteuropa, am Schwarzen Meer, im Kaukasus; im 19. Jahrhundert führten sie gleich viermal, dann erneut ab 1914 Krieg gegeneinander. Im Kalten Krieg schließlich gehörte die Türkei der NATO an: als Frontstaat an der Grenze zur So­wjet­union. Zwar hatte Ankara bereits in den 1980er Jahren begonnen, Erdgas aus der So­wjet­union zu beziehen und 1997 mit Moskau den Bau der Erdgaspipeline Blue Stream vereinbart, die aus Russland quer durch das Schwarze Meer direkt in die Türkei führen sollte – so wie etwas später die Nord-Stream-Pipelines durch die Ostsee direkt aus Russland nach Deutschland. Doch trotz des verbindenden Moments, das das Erdgas auch in diesem Fall in gewissem Umfang mit sich brachte: Die Turkstaaten-Kooperation etwa, mit der die Türkei im Kaukasus wie auch in Zentralasien aktiv wurde, im unmittelbaren russischen Einflussgebiet also, machte klar, dass strukturelle Konflikte zwischen Ankara und Moskau nicht verschwunden waren.

Dennoch begann Ankara in den späten 2000er Jahren stärker mit Moskau zu kooperieren, zunächst im Rahmen der Davutoğlu’schen „Null Probleme“-Politik. Erst kürzlich habe man hochrangige strategische Gespräche mit Russland aufgenommen, bestätigte Davutoğlu, damals Außenminister, im Mai 2010 dem US-Onlineportal „Foreign Policy“; man verstehe das als „Politik der guten Nachbarschaft“, die weder gegen die Kooperation mit der EU noch gegen diejenige mit den USA gerichtet sei. Dass die Türkei „in letzter Zeit die Beziehungen“ zu Russland deutlich „intensiviert und etliche Abkommen über eine bilaterale Zusammenarbeit abgeschlossen“ habe, hatte schon im April 2010 Jan Senkyr, Mitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung (CDU) in der Türkei, konstatiert. Zwar konkurrierten „beide Länder um Einfluss in Regionen wie dem Kaukasus, dem Schwarzen Meer und in Zentralasien“; dennoch sei man „sowohl in Ankara als auch in Moskau an einer strategischen Annäherung interessiert“. Der türkisch-russische Handel war in der Amtszeit von Ministerpräsident Erdoğan rasant gewachsen – von 4,5 Milliarden US-Dollar im Jahr 2000 auf 26,2 Milliarden US-Dollar im Jahr 2010, wobei freilich der größte Teil aus türkischen Erdgasimporten aus Russland bestand. Als Moskau und Ankara am 1. Dezember 2014 mitteilten, sie würden mit TurkStream eine zweite Erdgaspipeline durch das Schwarze Meer bauen, lobte Russlands Präsident Wladimir Putin, die Türkei sei für Moskau ein „strategischer Partner“ geworden.

Im Jahr darauf rumpelte es in den türkisch-russischen Beziehungen noch einmal kräftig. Am 30. September 2015 griff Russland zur Unterstützung von Präsident Assad in den Syrien-Krieg ein; es half den Regierungstruppen zunächst, Dschihadistenmilizen zurückzuschlagen, dann bei der fortschreitenden Rückeroberung des syrischen Territoriums. Ankara dagegen wollte Assads Sturz. Die Spannungen verschärften sich, als russische Militärjets auf ihren Flügen über syrischem Territorium immer wieder auch die Grenze zur Türkei tangierten oder überflogen. Am 24. November 2015 schoss ein türkischer Kampfjet schließlich eine russische Suchoi Su-24 über oder an der Grenze ab. Russland reagierte schroff. Man werde zwar deswegen keinen Krieg mit der Türkei anfangen, sagte Außenminister Sergej Lawrow am folgenden Tag. Moskau verhängte jedoch Wirtschaftssanktionen, führte die Visumspflicht für Türken wieder ein und stoppte den profitablen Tourismus; der Türkei drohten Milliardenverluste.

Antagonistische Kooperation

Im Juni 2016 näherten sich Ankara und Moskau aber bereits wieder an. Im Kreml traf ein Brief ein, in dem sich Erdoğan – für ihn ungewohnt – für den Abschuss des russischen Kampfjets entschuldigte. Die türkisch-russische Kooperation kam erneut in Gang. Im Herbst 2016 zeigte die Rückeroberung von Aleppo, die syrische Truppen mit russischer Unterstützung erreichten, dass Assad sich an der Macht würde halten können. Russland und die Türkei einigten sich schließlich auf eine „Moskauer Erklärung“, die am 20. Dezember 2016 unterzeichnet wurde – Dritter im Bunde war Iran – und die einen Waffenstillstand sowie Gespräche über eine dauerhafte Friedenslösung für Syrien vorsah. Am 29. Dezember, eine Woche nachdem die letzten Aufständischen Aleppo verlassen hatten, wurde ein Waffenstillstand für ganz Syrien erklärt; am 23. Januar 2017 trafen in Kasachstans Hauptstadt Astana Repräsentanten Russlands, der Türkei und Irans zu Friedensverhandlungen mit Vertretern der Regierung und der Aufständischen aus Syrien ein. Und wenngleich die Verhandlungen zunächst konfliktgeladen und schleppend verliefen: Der „Astana-Prozess“, der sich noch 2023 als Format zur Konfliktlösung bewährte, war geboren.

Seine Bedeutung reicht dabei weit über die konkreten Bemühungen, den Syrien-Krieg zu beenden, hinaus. Er ist zu einer Art Modell geworden, dessen Grundstruktur so aussieht: Russland und die Türkei unterstützen in einem Konflikt je eine der verfeindeten Seiten. Ihr Einfluss auf ihre Schützlinge ermöglicht es ihnen tendenziell, tragfähige Kompromisse durchzusetzen. Voraussetzung dafür ist, dass Moskau und Ankara den Willen haben, die notwendigen Zugeständnisse zu machen. Dieser Wille wird von der Aussicht angetrieben, einen zentralen Konflikt der internationalen Politik lösen zu können, ohne sich westlichen Diktaten oder auch nur westlicher Einmischung fügen zu müssen. Oder anders ausgedrückt: Sind Ankara und Moskau bereit, bei der Lösung eines Konflikts gewisse Nachteile hinzunehmen, können sie – ein angenehmer Effekt – den Westen ausbooten. Mit dem Astana-Prozess ist dies zum ersten Mal gelungen: Seit Ende 2016 spielen die westlichen Staaten in Syrien selbst allenfalls eine marginale Rolle. Die Mächte, die dort entscheiden, sind vor allem Russland und die Türkei.

Jörg Kronauer
Eine Welt ohne Hegemon
China, der Globale Süden und das Ende der westlichen Vorherrschaft
KVV konkret, Hamburg 2024, 188 Seiten, 19,50 Euro.
Erhältlich unter uzshop.de


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"Anatolische Tiger", UZ vom 24. Mai 2024



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