Wir brauchen eine Revolution in der Pflege“ – auf einer Kundgebung der Gewerkschaft erwartet man solche Sätze. „Wir brauchen keine Ökonomisierung in diesem Bereich, Pflege darf sich nicht an den Abrechnungssystemen orientieren“, schallte es in München bei der ver.di-Aktion anlässlich der Konferenz der Gesundheitsminister am 16. Juni aus den Lautsprechern. Überrascht durften die Zuhörer sein, dass am Mikrofon keiner ihrer Kollegen stand, sondern der bayerische Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU). Das Regierungslager sieht sich gezwungen, die Forderungen der Beschäftigten im Gesundheitswesen in Worten anzuerkennen.
In mehreren online zusammengeschalteten Aktionen forderte ver.di mehr Personal und höhere Löhne für diejenigen, die Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen am Laufen halten. Am selben Tag trafen sich die Gesundheitsminister des Bundes und der Länder und berieten über Corona-Impfzentren und die gesundheitlichen Folgen der Pandemie für Kinder und Jugendliche.
„Orange: Versorgung gefährdet – Arbeiten gesundheitsgefährdend“: Das zeigt das „Versorgungsbarometer“, eine Befragung von Beschäftigten, die ver.di bei den Aktionen vorstellte. 12.000 Kolleginnen und Kollegen nahmen von März bis Mai an dieser Umfrage teil und schätzten die Lage an ihren Arbeitsplätzen ein. Den Antworten wurden Werte zugewiesen, die die Qualität der Versorgung in einer Zahl ausdrücken, daraus ergibt sich die Anzeige des „Barometers“.
Beteiligt haben sich nicht nur Pflegekräfte aus Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, sondern auch Servicemitarbeiter und Psychiatriebeschäftigte. Drei Viertel der Befragten gaben an, die Personalausstattung an ihrem Arbeitsplatz sei „knapp“ oder „viel zu gering“. Ähnlich viele rechnen nicht damit, dass sie unter diesen Bedingungen bis zur Rente in ihrem jetzigen Beruf arbeiten können. Die Antworten zeigen, wie Personalausstattung und Qualität der Versorgung zusammenhängen. Ein Viertel der Beschäftigten aus Krankenhäusern und Altenpflege berichtet, ihnen fehle die Zeit für vorbeugende Behandlungen zum Beispiel dagegen, dass sich Patienten wundliegen.
Die Gewerkschaft hatte in ihrer Mobilisierung zu den Aktionen Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) vorgeworfen, sein Versprechen gebrochen zu haben, die Pflege zu entlasten. Spahn verteidigte sich bei der ver.di-Kundgebung gegen diesen Vorwurf: In seinen drei Jahren als Minister habe er die größte Veränderung in der Finanzierung der Krankenhäuser seit 20 Jahren veranlasst, die Pflege werde nicht mehr nach Fallpauschalen abgerechnet. In diesen 20 Jahren sei „zu oft zu Lasten der Pflege gespart worden“. Mit seinen zahlreichen Gesetzen habe er diese Entwicklung umgekehrt. Das Problem sei, dass Pflegekräfte fehlten, um die Stellen zu besetzen, für deren Finanzierung seine Regierung gesorgt habe.
Auf Spahn antwortete Sylvia Bühler, Mitglied des ver.di-Bundesvorstandes, dass es am Arbeitsplatz keine Entlastung gegeben habe. Spahn habe zwar viele Gesetze gemacht, aber das Gesundheitswesen sei „immer noch ausgelegt auf Profitmaximierung“. Zwar werde die Pflege nicht mehr nach Fallpauschalen abgerechnet – um ihre Gewinne zu sichern, erhöhten die Klinikunternehmer aber den Druck auf andere Beschäftigte. Bühler verwies auf den Sana-Konzern, der 1.000 Servicekräften kündigen wolle. Das System der Fallpauschalen müssen vollständig abgeschafft werden.
Dieses System war 2003 von der rot-grünen Regierung Schröder eingeführt worden. Es richtet die Krankenhäuser am Markt aus. Ähnlich wie mit der Agenda 2010 profitiert die Merkel-Regierung davon, dass die rot-grünen Vorgänger gewaltige „Reformen“ zu Gunsten der Banken und Konzerne durchgesetzt haben.
Merkel und Spahn halten daran fest, korrigieren abereinige krasse Auswüchse dieser Politik – in der vergangenen Woche nutzte Spahn das, um sich als Freund der Gewerkschaften und sozialer Wohltäter darzustellen.