Pünktlich zum Besuch der Hohen Kommissarin für Menschenrechte und Minderheiten der UNO, Michelle Bachelet, wurde in den westlichen Medien Ende Mai eine Kampagne gegen die Volksrepublik China begonnen. Einen Datensatz von zehn Gigabyte will der Anthropologe Adrian Zenz von einer geheimen Quelle bekommen haben. Ein Zusammenschluss westlicher Medien gibt an, die Echtheit der Daten geprüft zu haben. Einige Tage waren die „Xinjiang Police Files“ Topnachricht.
Aus Deutschland waren an dem Rechercheteam die Redaktion des „Spiegel“ und des „Bayerischen Rundfunks“ („BR“) beteiligt. Beide informierten umfangreich. Die Berichterstattung des „BR“ auf der Seite interaktiv.br.de/xinjiang-police-files und eine Reportage bei „Report München“ haben wir uns genauer angesehen.
Die Quelle
Laut Adrian Zenz habe er Material „von einem Hacker zugespielt bekommen“. Dieser angebliche Hacker habe sich Zugang in interne Computernetze chinesischer Behörden verschafft, über zehn Gigabyte Daten heruntergeladen, diese teilweise entschlüsselt und Zenz zur Verfügung gestellt. Mehr ist über den Informanten nicht bekannt.
Hingegen ist Adrian Zenz ein alter Bekannter. Bürgerlichen Medien gilt er als Chinaexperte. Insbesondere gehen die zahlreichen Berichte über Menschenrechtsverletzungen in der chinesischen Provinz Xinjiang auf ihn zurück. Zenz studierte in Neuseeland und promovierte an der Universität in Cambridge. Zu Forschungen für seine Doktorarbeit besuchte er zwischen 2006 und 2008 die chinesische Provinz Qinghai im Osten des Landes. Danach hat er das Land nicht wieder bereist. Er lehrte im Anschluss an der „European School of Culture and Theology“, die zum evangelikalen Unternehmen AWM gehört. 2018 siedelte er in die USA über und wird vom antikommunistischen Think-Tank „Victims of Communism Memorial Foundation“ (VOC) bezahlt. Fabian Kretschmer wies in der „taz“ auf die Verbindungen des Thinktanks zum US-Geheimdienst CIA hin. Nach eigenen Angaben widmete sich Zenz seit 2016 der Frage der uigurischen Minderheit, seit er für seine Chinastudien in den USA bezahlt wird, reichen ihn bürgerliche Medien und Politiker als Experten herum.
Zenz‘ Arbeitsweise ist immer dieselbe. Er spricht häufig im Konjunktiv, reißt die Fakten aus ihren Zusammenhängen und arbeitet mit Übertreibungen. Er stellt Behauptungen auf, ohne sie zu belegen. In den Medien werden die dann gerne zitiert und erhalten dadurch den Anschein von Wahrheit.
Die „Xinjiang Police Files“ umfassen Daten, die großenteils älter als fünf Jahre sind, wenige Dokumente sind von 2018. So wird der Eindruck erweckt, es gäbe Beweise für aktuelle Vorgänge, die wiederum von Zenz behauptet werden. Der „BR“ zitiert Zenz: „Es ist wie ein Fenster in einen Polizeistaat, über den ja so wenig Informationen herausdringen. Also so was haben wir wirklich noch nie gesehen.“ Schauen wir, was davon zu halten ist.
Der Kontext
Wir reden also von 2016/17, der Hochzeit der chinesischen sozialökonomischen Offensive gegen dschihadistischen Terrorismus (siehe Kasten unten). Seit Ende des letzten Jahrtausends breiteten sich mittelalterliche islamistische Ideologie und Lebensweisen in Xinjiang aus. Dies wurde von außen befördert und gelang angesichts weitgehender Selbstverwaltung der Autonomen Provinz. Das bildete den Nährboden für den Terrorismus, der nach 2010 in blutigen Anschlägen eskalierte. Der chinesische Staat reagierte darauf sehr umfangreich und differenziert. Natürlich gehörten zu den Maßnahmen auch Repressionen. China arbeitete dabei nicht wie andere Länder primär mit der Todesstrafe beziehungsweise Todesdrohung (legal oder faktisch) für Terroristen, sondern neben polizeilichen Inhaftierungen mit einem großangelegten sozialökonomischen Modernisierungsprogramm. Dazu gehören bis heute das ökonomische Wachstumsprogramm für Xinjiang: Die Region wächst nun schon seit Jahren schneller als selbst die Boomregionen der Ostküste, sie ist zum entscheidenden Korridor der Neuen Seidenstraßen geworden und Urumqi zu einem der größten Netzknoten der Seidenstraßen-Bahnlinien nach Westen.
Die Inhaftierung der Terroristen war dabei ein graduelles System nach Schwere der begangenen Verbrechen. Zu Beginn gab es für Schwerstverbrechen spezielle Deradikalisierungszentren, für leichtere gab es Abstufungen bis hin zu Internatsformen, in denen einige sich in den ersten Monaten zwangsweise aufhalten mussten, bevor ihnen später erlaubt wurde, Wochenenden zu Hause zu verbringen. Reintegration in die Gesellschaft statt Todesstrafe und Guantánamo-Folter war also das übergreifende Ziel.
Die Deradikalisierungszentren sind inzwischen aufgelöst. Eine Unterscheidung zwischen normalen Gefängnissen und den unterschiedlichen Formen der Terrorismusbekämpfung sowie Bildungszentren wird bis heute nicht vorgenommen. Im Westen wird alles unter Begriffen wie „Internierungslager“ zusammengefasst. Dabei hat die VR China ein Interesse an einer sozioökonomischen Veränderung. Die Jobs in Urumqi, Kashgar und anderenorts verlangen nach jungen, gut ausgebildeten Leuten.
Deshalb gehörten zu den Maßnahmen auch medizinische Aufklärungs- und Geburtenkontrollkampagnen in Xinjiang, vor allem aber die Berufsbildungsoffensive mit Mehrsprachigkeit in den Schulen (neben Uigurisch auch intensiviertes modernes Mandarin und eine weitere Fremdsprache als Regel). Die Berufsbildungsprogramme wurden zum Teil von der Weltbank finanziert. Entsprechende Ergebnisberichte hat die Weltbank veröffentlicht und lobend evaluiert. In der UNO gilt die chinesische sozialökonomische Offensive als vorbildlich. In Xinjiang wurde im Zuge dieser Modernisierung auch das gleiche Lohnniveau für Männer und Frauen hergestellt. Und die neueste 3-Kind-Politik in China wird auch in Xinjiang auf Basis einer neuerdings erheblich ausgebauten Kinder-, Mütter- und Familienförderung entwickelt.
Das erzeugt natürlich auch Widersprüche. Nicht für alle älteren konservativ-muslimischen Uiguren ist der sozialökonomische und bildungspolitische Wandel problemlos. Da bleiben Spannungen nicht aus, wenn etwa die Tochter mit Technikwissen oder Englischkenntnissen nach Hause kommt. Auch bestimmte Traditionen werden durch diese Entwicklung überholt, dörfliche Strukturen aufgebrochen. Der Übergang zurück in die Moderne war also nicht einfach. Er ist es in keinem Land der Welt.
Die Bilder
Auf der Internetseite xinjiangpolicefiles.org, deren Herausgeber die VOC ist, sind 2.884 biometrische Fotos veröffentlicht. Sie sollen 2018 in der Region Kashgar auf Polizeistationen und in Haftanstalten aufgenommen sein. Zugeordnet zu den Bildern sei laut den Berichten die amtliche Passnummer. Der „BR“ beschreibt sehr umfangreich, wie versucht wurde, die Echtheit der Bilder zu prüfen. Man habe sie forensisch prüfen lassen und keine Hinweise auf Fälschungen gefunden. Aufwendig wurde rekonstruiert, dass im Hintergrund einiger Bilder ein Plakat zu sehen ist, das als Ergebnis eines Malwettbewerbs der Kommunistischen Partei für Bauern in Xinjiang erstellt wurde. Damit sei die Echtheit bewiesen und gleich auch die Einordnung von Zenz: Bei den Abgebildeten handele es sich um Häftlinge. Dies kann behauptet werden, da ohne Beleg einigen Fotos ein „Internierungsstatus“ und „Internierungsort“ zugewiesen ist. Gleich beim ersten Bild, das angeblich eine 28-Jährige zeigt, ist zu lesen „Umerziehung“ und „Industriepark“. Wie sich aus diesen Worten auf Inhaftierung schließen lässt, wird nicht erläutert.
Die VOC schreibt in der Einleitung zu den Bildern: „Im Jahr 2018 wurde diesen Regionen befohlen, einen erheblichen Teil der Bevölkerung im Rahmen der Erfassung biometrischer Daten zu fotografieren.“ Da Adrian Zenz schon mal in China war, sollte er wissen, dass Wohnsitzregistrierungen dort auf Polizeidienststellen vorgenommen werden. Als Ausländer musste er sich ebenfalls dort melden. Die Tausende sind offenbar zum großen Teil Fotos, die im Zusammenhang mit normalen Wohnsitzmeldungen angefertigt wurden. So wie in Deutschland die biometrischen Fotos der Ausweisdokumente bei den Einwohnermeldeämtern gespeichert werden.
Die Beweise
„Bilder, die die Welt niemals sehen sollte“, beginnt „Report München“, und blendet dazu ein Bild ein, das einen an Händen und Füßen Gefesselten mit schwarzer Maske über dem Kopf zeigt. Er wird abgeführt von einem Uniformierten, ein weiterer begleitet sie, in der Hand einen Schlagstock. Im Hintergrund ein dritter Mann in Uniform mit Schild. Auf der „BR“-Internetseite werden weitere Bilder der Strecke gezeigt. Aufwendig wird dargestellt, dass die Echtheit der Bilder und die Abläufe, die sie zeigen, anhand der Metadaten in den Bilddateien rekonstruiert worden wären. Die sogenannten Metadaten enthalten nicht nur das Aufnahmedatum und das Modell der Kamera, sondern können auch Informationen zum Standort der Aufnahme speichern. Damit belegt der „BR“ dann, dass die Bilder aus einem „Internierungslager“ im Kreis Tekes stammen. Mit dem letzten Bild der Strecke suggeriert der „BR“ dann, was Ziel der Übung war: „Um 16:32 sitzt der Mann in einem ‚Tiger Chair‘, einem speziellen Stuhl, mit dem Menschen fixiert werden und den nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch chinesische Polizisten einsetzen, um Gefangene zu foltern.“
Auf xinjiangpolicefiles.org ist die gesamte Bilderstrecke abgebildet. Überschrift: „Sicherheitsübungen im Untersuchungsgefängnis Tekes“ Im Begleittext wird versucht, aus dem Gefängnis ein „Internierungslager“ zu machen. „Es wird davon ausgegangen, dass es sich um Übungen und nicht um tatsächliche Fluchtversuche handelt“ heißt es dann aber weiter.
Fragen der UZ beantwortete der „BR“ nicht (Siehe Kasten unten).
Mit viel Aufwand wird der Schein erweckt, die Fotos würde Beweise für Menschenrechtsverletzungen und Folter in China belegen. Was bleibt, ist der fahle Beigeschmack einer plumpen Fälschung. Alles nur eine Übung, wie sie in allen Gefängnissen der Welt regelmäßig stattfinden.
Weiterführende Hinweise haben wir online veröffentlicht: Hier die Rede von Michelle Bachelet nach ihrem Besuch in China. Hier geht es direkt zu unseren weiterführenden Links, und hier zu den Screenshots von xinjiangpolicefiles.org (übersetzt) und dem chinesischen Bericht zur Übung im Yangjiang-Gefängnis (übersetzt).
Terror in Xinjiang
Um die Jahrtausendwende wurde vor allem im Gebiet Xinjiang der dschihadistische Terrorismus zunehmend zu einem Problem. Er konnte sich vor allem unter der muslimischen Minderheit der Uiguren ausbreiten. Frauen und Mädchen wurden wieder ans Haus gebunden und zu Gebärmaschinen degradiert: 16-jährige Mütter und 32-jährige Omas waren keine Seltenheit, Frauen hatten im Schnitt wieder drei bis vier Kinder, wurden wieder von Schulbildung ferngehalten. Junge Männer verweigerten sich der regelmäßigen Arbeit und bevölkerten schon am Morgen die Cafés. Von der früheren Ein-Kind-Politik China waren alle Minderheiten ohnehin ausgenommen. Haltungen und Sozialstrukturen entwickelten sich insgesamt wieder zurück Richtung Mittelalter, und die Region fiel allmählich sozioökonomisch und beim Sozialproduktswachstum weit hinter die Entwicklung Gesamtchinas zurück. Ein Staat in dynamischer sozialistischer Entwicklung kann sich eine solche sozialökonomische Abkopplung einer Region nicht lange leisten.
Geschürt wurde die Entwicklung aus dem Ausland. Das offen terroristische „East Turkestan Islamic Movement“ (ETIM) sowie der eher legalistische „World Uyghur Congress“ (WUC, München/Prag) spielen dabei eine wichtige Rolle. Während die ETIM-Islamisten sogar von den USA vorübergehend als Terroristen klassifiziert, verfolgt und einige von ihnen bis heute in Guantánamo eingesperrt wurden, werden sie in den westlichen Medien konsequent zu „Freiheitshelden“ umdefiniert, sobald sie in China wüten.
Im Sommer 2009 kam es zu ethnischen Unruhen, bei denen nach offiziellen Angaben fast 200 Menschen getötet wurden, fast 70 Prozent davon waren Han-Chinesen. In der Folge nahmen islamistische und rassistische Überfälle zu, bei denen immer wieder Menschen ums Leben kamen. Von 2013 bis 2015 erreichte die Terrorwelle mit Anschlägen auch außerhalb Xinjiangs ihren Höhepunkt.
Auszug aus den Fragen der UZ-Redaktion:
Sie zeigen die Bilder und beschreiben die aufwendigen Recherchen zu den Bildern. Allerdings wird nicht erwähnt, dass die Bilder laut xinjiangpolicefiles.org nur Übungen zeigen: „Es wird davon ausgegangen, dass es sich um Übungen und nicht um tatsächliche Fluchtversuche handelt.“ Wieso haben Sie Zuschauerinnen und Lesern diese wichtige Information vorenthalten?
Ist dem „BR“ bekannt, dass das Einwohnermelderegister in China bei der Polizei geführt wird?
Die Quelle, die Namenslisten mit Tatvorwürfen und Urteilen enthält, ist meines Wissens bisher nicht veröffentlicht. Wann und wo ist eine Veröffentlichung geplant, dass die Aussagen überprüft werden können?
Ist dem „BR“ das Buch „Worthy to Escape: Why All Believers Will Not Be Raptured Before the Tribulation“, WestBow Press, 2012, bekannt, das Herr Zenz zusammen mit Marlon L. Sias veröffentlicht hat? Wie steht der BR zu den darin geäußerten Vorstellungen, „wahre biblische Prügel sind liebevolle Disziplin und keine Gewalt“ oder den Ideen zur Gleichberechtigung von Mann und Frau?
Die Reaktion des „BR“:
„Hier die Antwort der Redaktion:
Ein Reporterteam hat den Datensatz aufwendig mit verschiedenen Methoden überprüft https://www.tagesschau.de/investigativ/br-recherche/china-uiguren-internierungslager-103.html und mit einem vereidigten Übersetzer zusammengearbeitet. Eine vollumfängliche Publikation des Materials ist aus Gründen des Quellenschutzes und zum Schutz von Persönlichkeitsrechten nicht angezeigt.“
(Der Mitarbeiter der Pressestelle bat in der Antwort darum, nicht als Pressesprecher zitiert zu werden.)