Mit einem Paukenschlag bestätigte US-Verteidigungsminister Mark Esper in einer Pressekonferenz am 29. Juli 2020 schon länger kursierende Gerüchte, die US-Regierung plane einen umfassenden Abzug ihrer Truppen aus Deutschland. Zwar handelt es sich hierbei um ein uraltes Ziel der Friedensbewegung, gleich mehrere Schönheitsfehler trüben aber die Freude über die US-Ankündigung: Erstens ist es unklar, ob es tatsächlich so weit kommen wird – schließlich gibt es hiergegen in den USA einigen Widerstand und im November stehen Wahlen an. Zweitens werden selbst bei Umsetzung der ambitioniertesten Szenarien auch künftig noch zahlreiche US-Soldaten und wichtige Militärstandorte in Deutschland verbleiben. Drittens soll ein guter Teil der Truppen überhaupt nicht abgezogen werden, sie werden innerhalb Europas verlegt – und selbst der Rest soll weiter für schnelle Verlegungen an die Grenze Russlands Gewehr bei Fuß stehen. Und viertens forciert die US-Regierung parallel zu ihren Abzugsplänen die Militarisierung der NATO-Ostflanke, insbesondere durch ein im August mit Polen abgeschlossenes Stationierungsabkommen.
Trumps Teilabzugspläne
Über die Jahre wurde die US-Truppenpräsenz in Deutschland erheblich verringert: Waren Anfang der 1990er noch 227.586 US-Soldatinnen und -Soldaten hierzulande stationiert, sank diese Zahl zuerst auf 70.000 (2003), dann auf rund 47.700 (2010) rapide ab. Aktuell sind – Stand Juni 2020 – noch 34.146 US-Soldatinnen und -Soldaten in Deutschland stationiert (plus 3.452 Reservistinnen und Reservisten und 11.717 Zivilangestellte).
Am 5. Juni 2020 meldete dann zuerst das „Wall Street Journal“, die USA stünden vor einer weiteren großen Anpassung ihrer Truppenpräsenz. Zuerst war die Rede von 9.500 Soldatinnen und Soldaten, die abgezogen werden sollten, diese Zahl wurde aber in der bereits erwähnten Pressekonferenz am 29. Juli 2020 noch einmal auf 11.900 deutlich nach oben korrigiert. Besonders weitreichend ist dabei die beabsichtigte Verlegung großer, augenblicklich noch in Deutschland befindlicher US-Kommandos: Sowohl das „European Command“ als auch das „European Special Operations Command“ und das „Africa Command“ sollen von Stuttgart nach Mons in Belgien verlegt werden.
So weitreichend die Pläne auch sind, von einem „Abzug“ kann nur bedingt gesprochen werden: Tatsächlich werden nur 5.300 Soldatinnen und Soldaten dauerhaft in die USA zurückkehren (wo sie aber permanent auf Abruf für Einsätze auf dem europäischen Kontinent bereitstehen sollen). Weitere 5.600 werden nach Belgien und Italien verlegt und die restlichen 1.000 sollen allem Anschein nach in Polen stationiert werden.
Aufrüstung der Ostflanke
Bereits heute hat die NATO im Rahmen der „Verstärkten Vorwärtspräsenz“ bekanntlich vier Bataillone mit je 1.000 Soldatinnen und Soldaten in den baltischen Staaten und Polen stationiert. Der Großteil der US-Aktivitäten zur Aufrüstung der NATO-Ostflanke wurde dabei über die „European Deterrence Initiative“ (früher: „European Reassurance Initiative“) mit insgesamt 26,9 Milliarden Dollar finanziert (Haushaltsjahre 2015 bis 2021).
Die USA führen dabei vor allem das NATO-Bataillon in Polen an, haben darüber hinaus aber noch weitere Truppen dort stationiert. Eine nochmalige Aufstockung der dortigen US-Präsenz wäre deshalb wohl der endgültige Sargnagel für die NATO-Russland-Akte. Mit ihr sagte das westliche Bündnis 1997 – als Rückversicherung für die gleichzeitig beschlossene NATO-Osterweiterung – Russland zu, keine substanziellen Truppenkontingente dauerhaft in Osteuropa zu stationieren. Damals hieß es: „Die NATO und Russland betrachten einander nicht als Gegner. Die NATO wiederholt, dass das Bündnis in dem gegenwärtigen und vorhersehbaren Sicherheitsumfeld seine kollektive Verteidigung und andere Aufgaben eher dadurch wahrnimmt, dass es die erforderliche Interoperabilität, Integration und Fähigkeit zur Verstärkung gewährleistet, als dass es zusätzlich substantielle Kampftruppen dauerhaft stationiert.“
Selbst ein ausgewiesener Hardliner wie der ehemalige Chef des NATO-Militärausschusses Klaus Naumann wies auf die mögliche Tragweite einer weiteren Truppenaufstockung in Polen hin: „Wenn diese Truppen nach Polen verlegt werden oder zum Teil nach Polen verlegt werden, dann hat das keine dramatischen Auswirkungen für Deutschland und für Europa. Man muss allerdings fragen, ob das dann noch in Übereinstimmung steht mit der NATO-Russland-Akte, die ja eine permanente Stationierung von amerikanischen Truppen in Polen nicht vorsieht.“
Ungeachtet dessen hatten sich die USA und Polen bereits 2019 auf die Einrichtung weiterer US-Militärbasen und eine Aufstockung der US-Militärpräsenz von bislang 4.500 auf dann 5.500 Soldatinnen und Soldaten verständigt. Mit der Unterzeichnung des „Defense Cooperation Agreement“ am 15. August 2020 wurden die rechtlichen Voraussetzungen für die Stationierung dieser zusätzlichen 1.000 US-Soldatinnen und -Soldaten geschaffen, die allem Anschein nach von Deutschland dorthin verlegt werden sollen. In diesem Zusammenhang wurde zudem berichtet, Polen habe bei den Verhandlungen zugesagt, den Großteil der US-Stationierungskosten zu übernehmen.
Damit verfestigt sich die polnisch-amerikanische Kooperation weiter, die auch ihren Niederschlag darin findet, dass Warschau kürzlich beschloss, 32 US-Kampfflugzeuge vom Typ F-35A „Lightning II“ für 4,6 Milliarden Dollar anzuschaffen, anstatt auf die geplante deutsch-französische Alternative zu setzen. Auch durch die immer wiederkehrenden Spekulationen, das Land könne möglicherweise als Lagerstätte für US-Atomwaffen im Zuge der Nuklearen Teilhabe fungieren, profiliert sich Polen immer stärker als williger Frontstaat im Säbelrasseln gegen Russland. Welche Größenordnungen mit dem Ausbau der US-Basen tatsächlich anvisiert werden, zeigt eine Analyse des polnischen „Centre for Eastern Studies“ (OSW): „Die militärische Infrastruktur in Polen wird mit dem Ziel ausgebaut, bis zu 20.000 US-Soldatinnen und -Soldaten aufnehmen zu können.“
US-Wahlen als Unbekannte
Ob es allerdings überhaupt zur Umsetzung dieser Pläne kommen wird, ist unklar, schließlich gibt es dagegen in den USA einigen Widerstand. Besonders lautstark macht dabei schon seit einiger Zeit Ben Hodges, der bis 2017 Kommandeur der US-Streitkräfte in Europa war, seinem Ärger Luft: „Deutschland ist unser wichtigster Verbündeter in Europa. Hier ist unser ‚Brückenkopf‘, über den viele US-Operationen in Europa, Afrika, dem Mittleren Osten laufen. Wenn wir hier diese Truppen abziehen, wo es eine so gute Infrastruktur gibt, wird es schwer sein, weiterhin so reaktionsfähig zu bleiben. Wenn zum Beispiel Truppen nach Italien verlegt werden, wird es zudem Millionen von Dollar kosten, allein um die Unterbringungen aufzubauen.“
Sollte jedenfalls der Demokrat Joseph Biden siegreich aus den anstehenden US-Wahlen im November hervorgehen, hieß es aus seinem Lager bereits, er werde den Abzugsbeschluss womöglich wieder einkassieren, berichtet etwa die „Frankfurter Allgemeine“: „Der demokratische Präsidentschaftsbewerber Joe Biden würde einem Berater zufolge bei einem Wahlsieg die Entscheidung von Amtsinhaber Donald Trump zu einem Truppenabzug aus Deutschland prüfen. Die Probleme fingen mit der Art an, wie die Entscheidung getroffen worden sei, sagte (Biden-Berater) Blinken unter Anspielung auf das Fehlen einer Rücksprache mit der Bundesregierung. ‚Aber wir haben auch ein tiefgreifendes Problem mit der Sache an sich.‘“
Doch selbst falls sich Donald Trump in eine zweite Amtszeit rettet, muss der Kongress die erheblichen Mittel bewilligen, die eine Umsetzung der US-Abzugspläne erfordern würde. Angesichts der Tatsache, dass das Vorhaben auch unter Republikanern auf erheblichen Widerstand trifft, ist dies alles andere als ausgemacht. Die „Zeit“ berichtete etwa: „Mit den jetzt bekannt gewordenen Plänen zeigte sich auch der republikanische Senator Ben Sasse nicht einverstanden. Er bescheinigte Trump mangelndes strategisches Verständnis. ‚US-Soldaten sind nicht auf der ganzen Welt als Verkehrspolizisten oder Sozialarbeiter stationiert – sie bremsen die expansionistischen Ziele der schlimmsten Regime der Welt, vor allem Chinas und Russlands‘, sagte Sasse. Trumps Ex-Sicherheitsberater John Bolton kritisierte, die Entscheidung sende ‚unseren Gegnern das falsche Signal und macht unsere Verbündeten angesichts der zunehmenden globalen Bedrohungen verwundbar‘.“
Deutsche Reaktionen
Bemerkenswert bei alledem ist jedenfalls, dass die deutsche Regierung von der Meldung vollständig auf dem falschen Fuß erwischt wurde – augenscheinlich gab es keine vorhergehende Konsultation. Man werde es „zur Kenntnis“ nehmen, sollten die USA ihre Truppen abziehen, äußerte sich Außenminister Heiko Maas bemüht diplomatisch. Deutlich direkter polterte der Verteidigungspolitische Sprecher der Unions-Bundestagsfraktion, Henning Otte: „Eine Entscheidung über einen möglichen Abzug von US-Truppen aus Deutschland in dieser Größenordnung hätte besser vorher bilateral oder in der Nato beraten werden müssen.“ Auch der Transatlantik-Koordinator der Bundesregierung, Peter Beyer, nahm bei seiner Kritik kein Blatt vor den Mund: „Im negativen Sinne beispiellos war, dass die Bundesregierung von den Abzugsideen zunächst nur aus der Zeitung erfahren hat“, sagte er. „Anschließend wurden wir eine Woche lang hingehalten, es gab keine weiteren Informationen, obwohl sich die Bundesregierung auf allen Kanälen darum bemühte, mehr in Erfahrung zu bringen. So etwas sollte in der eigentlich sehr guten und vitalen deutsch-amerikanischen Freundschaft nicht wieder vorkommen.“
Gleichzeitig versäumten es viele der üblichen Verdächtigen nicht, die Gelegenheit beim Schopf zu packen und aus der US-Ankündigung einen Sachzwang zur Aufrüstung Deutschlands und Europas zu konstruieren: „Europa wird mehr Verantwortung übernehmen müssen“, lautete etwa die bündige Schlussfolgerung des CDU-Verteidigungspolitikers Roderich Kiesewetter. Ähnlich äußerte sich auch der SPD-Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt, Michael Roth: „Der angekündigte US-Truppenabzug ist enttäuschend. Aber wir sollten jetzt nicht jammern und in Wehklagen verfallen, sondern den Schritt der USA als Weckruf und Chance zur Stärkung unserer europäischen Souveränität begreifen. Es ist an der Zeit, dass Europa seine Rolle in der Welt stärkt und auf eigenen Füßen steht. Es geht um unsere Selbstbehauptung.“
Auch der emeritierte Politikprofessor Christian Hacke nutzte die Gelegenheit, sich einmal mehr als Hardliner zu profilieren: „Wir haben ja gar keine Sicherheitspolitik. Wir sind eine ganz großartige Soft-Power-Macht. Wir sind in der Welt ein zivilisatorisches Vorbild, in der Corona-Krise stehen wir gut da – aber alles, was mit Courage und militärischer Macht zu tun hat, das können wir nicht. Dieses Mosaik des Versagens bemängelt nicht nur Trump. Wir sind einfach kein verlässlicher und schon gar kein innovativer Faktor mit Blick auf atlantische und globale Sicherheit.“
Abzug als Chance
Während die einen den möglichen US-Truppenabzug als Chance für forcierte Aufrüstungsbestrebungen verstehen, bemühen sich andere durchaus darum, ihn als Anstoß für positive Veränderungen zu betrachten. So äußerte sich vor allem SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich, der US-Abzug solle als Chance einer „nachhaltigen Neuausrichtung der Sicherheitspolitik in Europa“ genutzt werden, die sich „nicht in Militärpolitik und Verteidigungsausgaben erschöpfen“ dürfe. Ernstgemeint müsste eine solche Politik auch darauf drängen, dass die 24.000 verbleibenden US-Soldatinnen und -Soldaten ebenfalls das Land verlassen und die wichtigen Einrichtungen, vor allem die Luftwaffenbasis in Ramstein, aber auch das Militärkrankenhaus in Landstuhl und das Trainingszentrum in Grafenwöhr, schnellstmöglich geschlossen werden.
Auch das erhebliche Potenzial, das die freiwerdenden Liegenschaften in einem außer Rand und Band geratenen Wohnungsmarkt in sich bergen, ist erheblich. So schreibt zum Beispiel der Mieterverein Stuttgart: „Denn allein in Stuttgart belegen Kasernen und Truppenunterkünfte der US-Streitkräfte insgesamt ca. 184 Hektar Fläche. Nur zum Vergleich: Die wohl bislang in diesem Jahrhundert größte freiwerdende Fläche für Stuttgart, das Rosensteinareal, erstreckt sich inklusive Parkerweiterung auf ca. 85 Hektar. Darauf sollen 7.500 Wohnungen neu entstehen. Selbst ein Teilabzug aus den Robinson-Barracks in Zuffenhausen könnte, nach Kenntnis des Mietervereins, schon eine Fläche von 65 Hektar für Stuttgarts Bürger nutzbar machen lassen.“
Anstatt sich über eine solche Gelegenheit zu freuen, fällt dem grünen Stuttgarter Oberbürgermeister Fritz Kuhn nicht anderes ein, als die US-Truppen mehr oder weniger direkt zum Bleiben aufzufordern: „Als Oberbürgermeister der Landeshauptstadt Stuttgart bedaure ich die Konzepte zum Truppenabzug. Stuttgart hat immer gute Beziehungen zu den US-Soldaten, den Zivilangestellten und ihren Angehörigen gepflegt. Wir müssen nun abwarten, was das genau für die Standorte der US-Truppen in Stuttgart und der Region bedeuten wird und über welchen Zeitraum hinweg. Mit ihrer Entscheidung kündigt die US-Administration unter Präsident Trump Hals über Kopf die seit Jahrzehnten gewachsene enge Zusammenarbeit in einer Strafaktion gegen einen Verbündeten und ohne Konsens im US-Kongress auf.“